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Wertlose Werte

»Wie es ist, darf es nicht bleiben«, ist Werner Heine überzeugt – eine kapitalismuskritische Streitschrift

Relikt aus der DDR: Skulptur in Erinnerung an gegen Hitlerdeutschland gefallene Sowjetsoldaten in Wünsdorf
Relikt aus der DDR: Skulptur in Erinnerung an gegen Hitlerdeutschland gefallene Sowjetsoldaten in Wünsdorf

Der Böse ist – schon aus Gründen der Logik – immer der andere«, bemerkt sarkastisch Werner Heine und fasst damit gewissermaßen in einem Satz über vier Dezennien Kalter Krieg und Ost-West-Konflikt zusammen. Der Satz hat aber ebenso noch heutzutage Gültigkeit. Bedenkt man allein das recht bald nach dem Machtantritt von Wladimir Putin im Westen wiedergekehrte Feindbild Russland. War der Ex-KGB-Mann in der DDR anfänglich noch hofiert worden, wird er seit über einem Jahrzehnt verteufelt, lange vor seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine.

Mit der »schlimmsten Wendung, dem Überfall der russischen Armee, der Bombardierung ukrainischer Städte und der Ermordung ukrainischer Bürger hatte ich nicht gerechnet, bis sie eintrat«, bekennt der Journalist. Und begründet: »Weil sie so irrational ist. Weil dieser Schritt den Aggressor so sehr ins Unrecht setzt und in jahrelange Isolation treiben wird, dass ein Vorteil für ihn hinter den Tausenden von Opfern nicht mehr zu erkennen ist.« Aber auch die deutsche wie auch die gesamte westliche Reaktion auf Putins Krieg habe er nicht für möglich gehalten, offenbart Heine in seinem neuen Buch. »Binnen Stunden wurden an jenem 24. Februar 2022 aus gewohnheitsmäßigen Friedensfreunden wutentbrannte Bellizisten, die den alten Feind im Osten mit dem alten Hass überschütteten. Das Reich des Bösen war blitzartig wiederauferstanden. Eine deutsche Journalistenmeute rief unisono nach Waffen und Beistand gegen die Russen, denn sonst stünden sie morgen, na klar, am Rhein«, kommentiert der ehemalige Redakteur von »Spiegel«, »Stern« und »Konkret«. Er geißelt sodann die Vergesslichkeit der Journalisten: »kein Wort mehr über den total vergessenen deutschen Angriffskrieg auf dem Balkan 1999, schon gar kein Wort über das Wüten deutscher Besatzer in Odessa oder Sewastopol, die zwischen 1942 und 1944 die Ukraine ausgeplündert und 60 000 Ukrainer umgebracht hatten, weil diese Juden waren. Und die sich noch bei ihrem Abzug bemühten, ganz wie die Russen jetzt, den größtmöglichen Schaden für die Bevölkerung anzurichten – Zerstörung der Brücken und der Wasserleitungen, Sprengung der Hafenanlagen und aller Kraftwerke«. Heine erinnert daran, dass den deutsch-faschistischen Okkupanten die Eroberung der Krim ein primäres Ziel ihres Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war, nicht nur aus militärstrategischen, sondern vor allem aus ökonomischen Interessen. Im Gefolge der Wehrmacht marschierten denn auch Kohorten der deutschen Industriellen in das besetzte Land. Damals übrigens gehörte die Krim noch zur Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik Russland, erst 1954 schenkte der in einer ukrainischen Bauernfamilie geborene Partei- und Staatschef Nikita S. Chrustschow die Halbinsel der ukrainischen SSR – fatalerweise.

Heine sei hier so ausführlich zitiert, da es starke Wort sind. Solche finden sich in seinem neuen Buch zuhauf. Es ist eine Streitschrift, die Stellung bezieht zu aktuellen Problemen, aber zugleich ein historisches Kompendium. Anhand persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen rekonstruiert er die Geschichte der Bundesrepublik: Integration alter Nazis im Adenauer-Staat, Remilitarisierung und Aufrüstung, Westintegration, Kalter Krieg, »Neue Ostpolitik«, die Rebellion der Achtundsechziger, die – so sein Urteil – »im Kampf gegen den Imperialismus versagt hat«, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, Arbeitslosigkeit, Armut, Abbau des Sozialstaats. Verfasst hat er sein autobiografisch gefärbtes Manifest in Form eines Briefes an seine Enkelin Hadley. Der DDR-sozialisierte Bürger wird sogleich an Jürgen Kuczynskis »Gespräche mit seinem Urenkel« denken. Indes, diese Publikation ist ganz anders, naturgemäß, andererseits im ambitionierten Vorhaben wiederum nicht.

Hat der aus Hitlerdeutschland vertriebene Jude und Kommunist, Nestor der Wirtschaftswissenschaften der DDR mit seiner Intervention eine Reformierung des Sozialismus erhofft, geht es Heine um den Nachweis, dass der Kapitalismus sich überholt hat. Er seziert den »Wert westlicher Werte«, die er verraten, verkauft, verkommen, verhunzt erachtet, um es hier einmal etwas salopp zusammenzufassen. Mehr noch, Heine zweifelt an, dass es diese hehren, gerade heute inflationär beschworenen Güter, insbesondere von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, aber auch dem strammen Nato-Oberbefehlshaber Jens Stoltenberg, eigentlich nie so gegeben hat. Rede-, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Menschenrechte, Toleranz und Demokratie – das ganze Paket erscheint ihm wie der Scheinriese im fantastischen Märchen von Michael Ende: Kommt man ihnen näher, schrumpfen sie in sich zusammen.

Auch zu dem regelmäßig, insbesondere vor und noch unmittelbar nach dem 24. Februar 2022 an die Wand gemalten Schreckgespenst, dass der »freie Westen« zu kollabieren, auseinanderzubrechen drohe, hat Heine eine dezidierte Ansicht: »Was da zu zerbrechen droht, war in Wahrheit nie zusammen.« Und ist es immer noch nicht, wie hinzuzufügen wäre. Gleichwohl Politiker und Militärstrategen der gegen Ost wie Süd verschworenen westlichen Gemeinschaft hörbar aufatmeten, als endlich die militärische und wirtschaftliche Allianz mit verschärften Sanktionen gegen Russland sowie Waffenlieferungen und Finanzspritzen für die Ukraine geschmiedet war. Und von Deutschland wird in Washington und Brüssel verlangt, seiner »Verantwortung« für die Welt gerecht zu werden, »Führung« zu übernehmen. Darum hatte sich dieses Land schon zwei Mal bemüht. Der zweite Versuch war noch martialischer und mörderischer als der erste. »Weltherrschaft« lautete damals die Parole.

Der 1941 in Meppen geborene, studierte Volkswirtschaftler erinnert sich an seine Kindheit: an Bombennächte im Luftschutzkeller, den Hauptmann von der Wehrmacht, der die Nachricht vom Tod des Vaters brachte, gefallen im Osten, im lettischen Liepāja, an den Einmarsch polnischer Regimenter der britischen Royal Army im Emsland, Spielen in Trümmern, Hungern und Darben, Einschulung im April 1948 und kurz darauf die Währungsreform in den Westzonen am 20./21. Juni, vor 75 Jahren. »Nein, euer Vater war kein Nazi«, sei ihm und seinem Bruder Hans ständig versichert worden, als die Jugendlichen nachzufragen begannen. Und: «Man hatte ja nicht anders gekonnt, man musste ja mitmachen.« Aber auch: »Hatten die Braunhemden in manchen Dingen aber vielleicht doch recht gehabt?« Die Großmutter zeigte den Heranwachsenden eine Europakarte, die suggerierte, dass das »Deutsche Reich« von Feinden umzingelt gewesen sei. Die Wahrheit über seinen Vater erfuhr Heine von seiner Mutter, als diese schon 90 Jahre alt war. Sie erzählte, wie sie in den frühen Dreizigerjahren mit ihrem damaligen Verlobten und späteren Gatten an einem Sonntagnachmittag bei einem Spaziergang in Hannover auf eine Gruppe sich prügelnder jüdischer Knaben getroffen sei. Sie habe dazwischengehen wollen, aber ihr Hans habe sie zurückgehalten: »Lass die, das regeln wir anders.«

Die Lektüre von Wolfgang Borcherts antimilitaristischem Lehrstück »Draußen vor der Tür« habe er als Gymnasiast gegen den »verdrucksten Widerstand des Deutschlehrers durchboxen« können, schreibt Heine. »Aber zugleich priesen unsere Lehrer die Wiederbewaffnung und den Aufbau der Bundeswehr und schürten die Furcht vor den alten Feinden im Osten. Sie gaben uns die Heftchen aus dem Bonner Innenministerium zu lesen, die den Gänsefüßchen-Staat DDR anprangerten und die Schriften von Karl Marx als unwissenschaftliche Hetzpropaganda denunzierten.«

Heine fragt sich, warum eine gemeinsam erlebte Sozialisation zu ganz unterschiedlichen Anschauungen führen könne. Sein knapp vier Jahre älterer Bruder etwa war der Ansicht, er lebe in der besten aller politischen Ordnungen und alle Linken seien Spinner. Oder ein ehemaliger Klassenkamerad, der viele Jahre als Entwicklungshelfer in Ostasien war, hetzt mittlerweile als AfD-Abgeordneter im emsländischen Kreistag gegen muslimische Flüchtlinge. Auch solche Fragen machen dieses autobiografisch gefärbte Manifest zu einer anregenden Diskurs- und Erkenntnisquelle. Besonders interessant aber sind die Reflexionen über den »Vereinigungsprozess«, an dem Heine nichts Gutes zu finden vermag. Die Schande der Abwicklung ostdeutscher Kultur und Kompetenz in allen gesellschaftlichen Bereichen demonstriert er unter anderem an Beispielen im Verlagswesen. Seine Empörung ist evident.

Wegen seiner global-kapitalismuskritischen Äußerungen auch im Gespräch am »nd«-Stand auf der Leipziger Buchmesse Ende April befragt, ob er etwa für eine Weltrevolution votiere, antwortete Werner Heine kurz und knapp: »Natürlich!«

Werner Heine: Wie es ist, darf es nicht bleiben. Über den Wert der westlichen Werte. Das Neue Berlin, 239 S., br., 20 €.

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