Ausgezeichnete Gesundheitsversorgung

Stadtteilgesundheitszentrum in Neukölln gewinnt den Berliner Gesundheitspreis

Ein Becher Limonade und ein offenes Ohr
Ein Becher Limonade und ein offenes Ohr

Die Sonne strahlt auf die nach ihr benannte Sonnenallee hinab, und der Asphalt brutzelt. Nahe dem Hermannplatz ist hier eigentlich immer viel los: Autos, Busse, Radfahrer*innen und Fußgänger*innen kämpfen darum, aneinander vorbeizukommen. So auch am Donnerstagnachmittag. Doch an der Ecke zur Hobrechtstraße, direkt vor den Überresten der alten, aktuell leerstehenden Tanke, trotzt ein kleiner, bunter Kiosk dem Stress des Durchgangsverkehrs und schenkt selbst gepresste Zironenlimonade aus. Der Preis: Die Passant*innen sind eingeladen, auf ihrem Pappbecher eine ihrer Sorgen zu notieren. »Limonadendialoge« nennt das Gesundheitskollektiv Berlin ihre kleine Veranstaltung.

»Schon gestern haben wir ganz viele Sorgen gesammelt, von ›saubere Spielplätze fehlen‹ bis ›der Kapitalismus zerstört die ganze Welt‹«, sagt Steffi Müller zu »nd«. Sie ist Projektkoordinatorin des Gesundheitskollektivs und gerade noch mit dem Aufbau des Kiosks beschäftigt. Das Metallgestell ist voll behangen mit Flugblättern und Plakaten. In vielen verschiedenen Sprachen ist oben »Kiosk der Solidarität« zu lesen. »Der Kiosk wird vom Netzwerk Transforming Solidarities organisiert. Die erkunden solidarische Projekte in den Bereichen Arbeit, Gesundheit und Wohnen, und sind dadurch auf uns gestoßen«, erklärt Müller.

Das Gesundheitskollektiv spricht mit den Limonadengästen über deren Probleme und vermittelt bei Bedarf direkt weiter in das Stadtteilgesundheitszentrum in der Neuköllner Rollbergstraße, welches am vergangenen Mittwoch für ihre Arbeit den Berliner Gesundheitspreis des AOK-Bundesverbands und der Berliner Ärztekammer erhalten hat.

Das Zentrum in Räumen der alten Kindl-Brauerei wird vom Gesundheitskollektiv seit Dezember 2021 betrieben. Es beherbergt zwei Arztpraxen, zahlreiche soziale und psychologische Beratungsangebote und seit etwas über einem Jahr auch ein Café. Der Ansatz des Projektes ist es, Gesundheit und Soziales zusammenzudenken. So arbeiten zum Beispiel die Ärzt*innen eng mit den Sozialberater*innen zusammen, um die Probleme der Patient*innen ganzheitlich angehen zu können. »Wenn eine Person unter hohem Blutdruck leidet und dann vom Stress am Arbeitsplatz erzählt, wo sie gemobbt wird, dann kann nicht das eine ohne das andere gelöst werden«, sagt Steffi Müller.

Neben einem mobilen Gesundheitsbereatungsteam, das aufsuchende Arbeit im Kiez betreibt, will vor allem das Café die Zugänglichkeit der Angebote erhöhen und Menschen mit ihren Beschwerden zielgerichtet an die richtige Adresse vermitteln. Yvonne Kiefel ist eine Koordinatorin des Cafés. »Das Café ist die erste Anlaufstelle. Es gibt hier auch immer mehr eigene Angebote«, sagt sie zu »nd«. So zum Beispiel die beeindruckende Liste an Selbsthilfegruppen: Es gibt unter anderem eine Gruppe für ADHS bei Erwachsenen, eine Gruppe für Depression, Angst und Achtsamkeit und eine Gruppe für psychische Probleme im Kapitalismus. »Die Gruppen hier wurden immer von den Leuten selbst initiiert, die ins Café gekommen sind. Wir stellen dafür die Struktur zur Verfügung«, sagt Kiefel.

Das Café ist auch Anlaufstelle für Menschen, die gerade jemanden brauchen, um über ihre Probleme und Sorgen zu sprechen. »Dafür braucht es auch Personen, die bestimmte Erfahrungen auch schon mal gemacht haben. Deshalb haben wir die Menschen hier aufgrund ihrer vielfältigen Lebenserfahrungen eingestellt und nicht etwa nach irgendwelchen Zetteln, die sie vorlegen können«, sagt Kiefel. Bei all den heftigen Erfahrungen, die Besucher*innen zum Teil machen und Rede- und Unterstützungsbedarf haben, sei es sehr wichtig, dass es diese »Erfahrungsexpert*innen« im Café gebe.

Problem bei all dem ist, wie an so vielen anderen sozialen Orten, die Finanzierung. Sieben verschiedene Fördertöpfe sind es aktuell, welche die Arbeit des Gesundheitskollektivs ermöglichen. Projektfördermittel werden in der Regel begrenzt auf zwei Jahre zur Verfügung gestellt, das heißt, das Gesundheitskollektiv muss immer wieder neue Anträge stellen und um die Gelder bangen.

Akut davon betroffen ist im Augenblick vor allem der Cafébetrieb. Die Förderung durch die Lotto-Stiftung endet demnächst und es gibt noch keine Rückmeldung auf zwei Folgeanträge, die das Gesundheitskollektiv gestellt hat, sagt Patricia Hänel zu »nd«. Die Ärztin ist für das Projektmanagement zuständig.

Hänel wünscht sich eine Regelfinanzierung für das Stadtteilgesundheitszentrum, um sicher planen zu können. Dass das Gesundheitskollektiv gemeinsam mit der Hamburger Poliklinik Veddel, mit der es im Zusammenschluss Polikliniksyndikat organisiert ist, den Berliner Gesundheitspreis gewonnen hat, gibt ihr dabei Hoffnung für die Zukunft. »Der Gesundheitspreis ist super wichtig für uns, weil er hoch angesehen ist«, sagt sie. Das Thema des überregionalen, alle zwei Jahre vergebenen Preises mit einem Preisgeld in Höhe von 20 000 Euro war dieses Jahr »Gesundheit gerecht gestalten«.

»Es freut uns sehr, dass dieses Thema jetzt größer in die Diskussion kommt. Wir hoffen, dass das der Anfang einer größeren Entwicklung ist«, so Hänel. Für das Gesundheitskollektiv sei es wichtig, den Fokus auf die enge Verknüpfung von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit zu legen. Um Gesundheit gerecht zu gestalten, brauche es ein gesellschaftliches Umdenken. »Gesundheitliche Ungleichheit hat eine gesellschaftliche Ursache. Wenn wir akzeptieren, dass Geld und Ressourcen ungleich verteilt sind, dann kann das Gesundheitssystem selbst da wenig ausrichten.«

Das gesellschaftliche Umdenken ist auch deshalb notwendig, um eine sinnvolle Regelfinanzierung solcher multiprofessioneller Projekte zu ermöglichen. Aktuell können die Ärzt*innen im Neuköllner Stadtteilgesundheitszentrum zum Beispiel nicht über den Verein des Gesundheitskollektivs angestellt werden, sondern die beiden Praxen im Zentrum müssen selbstständige Betriebe sein, was die Finanzierung erschwert. Im aktuellen Referent*innenentwurf für ein Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz auf Bundesebene sei zumindest die Überlegung festgehalten, Primärversorgungszentren mit psycho-sozialer Versorgung zu verbinden. »Den Entwurf insgesamt halten wir zwar nicht für gelungen, aber immerhin zeigt dieser Teil, dass sich in Zukunft politisch etwas in die richtige Richtung entwickeln könnte«, sagt Hänel.

Auf Landesebene ist derweil gesetzlich nicht viel rauszuholen. Aber unter der rot-grün-roten Koalition wurde immerhin beschlossen, solche integrierten Stadtteilgesundheitszentren wie das in Neukölln in allen Bezirken aufzubauen und zu fördern. Durch das entsprechende Landesprogramm wird auch das Gesundheitskollektiv in Neukölln unterstützt. »Da müssen wir trotzdem immer von Haushalt zu Haushalt schauen, wie viele Mittel zur Verfügung stehen«, sagt Hänel.

Auf der Sonnenalle laufen die »Limonadendialoge« derweil gut. Im Minutentakt bleiben interessierte Neuköllner*innen stehen und kommen mit den Mitgliedern des Gesundheitskollektivs ins Gespräch. Eine Person beispielsweise fragt nach Unterstützung, um ihre Familie, die im zerstörten Erdbebengebiet in der Türkei lebt, nach Berlin zu holen. Eine andere Person hat Probleme mit dem Jobcenter. In einem Fall erzählt ein Passant von einem Freund, der seit drei Jahren starke Bauschschmerzen hat, aber bisher konnten keine Ärzt*innen helfen.

»Die offene, aufsuchende Arbeit ist super wichtig. Es lohnt sich, solche Sachen wie hier auszuprobieren«, sagt eine Mitarbeiterin des Gesundheitskollektivs beim Limonade-Ausschenken zu »nd«.

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