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Wirtschaftswachstum: Stillstand bedeutet Untergang
Wie die Politik das Wirtschaftswachstum einerseits problematisiert und gleichzeitig heiligt
Deutschland steht vor einem großen Problem: Seine Wirtschaftsleistung nimmt nicht mehr zu, im zweiten Halbjahr dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sogar wieder schrumpfen. Die Politik sucht nach Gegenmaßnahmen, um die Konjunktur anzutreiben, von Steuersenkungen bis zu Subventionen. Parallel zu den Negativmeldungen läuft die Debatte, ob dauerhaftes Wirtschaftswachstum überhaupt mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit vereinbar ist – alles deutet zunehmend darauf hin, dass dies nicht der Fall ist. In diese Debatte schaltet sich die Politik ein, indem sie den Wachstumskritiker*innen einerseits Recht gibt und gleichzeitig klarstellt, dass am Wachstum nicht gerüttelt werden wird.
Im zweiten Quartal hat die deutsche Wirtschaftsleistung stagniert, meldete am Freitag das Statistische Bundesamt. Das bedeutet: Im Zeitraum April bis Juni wurde nur so viel produziert wie im Zeitraum Januar bis März. »Die deutsche Wirtschaft kommt nicht vom Fleck«, kommentierte die VP Bank. Gründe hierfür seien eine schwache Weltwirtschaft, unter der die deutsche Industrie »leide«. Die privaten Haushalte seien in Anbetracht gestiegener Lebenshaltungskosten zum Sparen gezwungen, was an einem massiven realen Umsatzeinbruch des Einzelhandels abzulesen ist. Die Armut der Menschen ist zur Konjunkturbremse geworden.
Bereits in den Wintermonaten war das deutsche BIP leicht gesunken, nun stagniert es, insgesamt ist die Wirtschaftsleistung derzeit nur so hoch wie vor der Corona-Pandemie. Und für die nahe Zukunft sieht es nicht gut aus. In Umfragen äußerten sich die Unternehmen zuletzt pessimistisch. »Deutschlands Wirtschaft ist im Abwärtsstrudel«, schlägt die Deka-Bank Alarm. In der Politik wird über Maßnahmen zur Wachstumsförderung debattiert. Das Finanzministerium will die Unternehmen von Steuern entlasten, das Wirtschaftsministerium setzt auf Subventionen für Zukunftstechnologien, die Deutsche Bank fordert »Reformen zur Bewältigung der neuen Wachstumsherausforderung«.
Getrennt davon, quasi in einer Parallelwelt, wird darüber diskutiert, ob angesichts der Klimakatastrophe die Wirtschaftsleistung nicht überhaupt schrumpfen müsste. Diese Diskussion hat inzwischen eine breite Öffentlichkeit und zieht Prominente an. So veranstaltete das EU-Parlament im Mai eine Konferenz »Beyond Growth«, zu deutsch: Jenseits des Wachstums. Ein auf der Konferenz veröffentlichtes Manifest zahlreicher Nichtregierungsorganisationen kritisierte »unsere Besessenheit vom endlosen Streben nach Wachstum und Profit«, das »im Widerspruch steht zu den endlichen Grenzen des Planeten und dem menschlichen Wohlbefinden. Wir müssen dem ein Ende setzen!«
Einen Auftritt auf der Konferenz hatte auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die demonstrierte, wie man eine solche Debatte in die gewünschte Richtung dreht. Zu Beginn stellte sie unter tosendem Beifall fest, dass »ein Wachstumsmodell, das auf fossilen Energien beruht, obsolet ist«. Dann fuhr sie fort: »Wir müssen unsere Ökonomien so schnell wie möglich dekarbonisieren. Und dafür haben wir unseren European Green Deal vorgelegt. Der Green Deal soll nicht nur unser Programm zur Bekämpfung des Klimawandels sein. Er ist auch unser neues Wachstumsmodell für eine blühende, verantwortungsvolle und resiliente Ökonomie.« So gelang es der EU-Kommissionspräsidentin, den Wachstumsimperativ zu retten.
Scheinbar unter die Wachstumskritiker gegangen ist inzwischen auch jenes Bundesministerium, das sowohl für Wirtschaft als auch den Klimaschutz in Deutschland zuständig ist. Wie schon 2022, so findet sich auch im jüngsten Jahreswirtschaftsbericht des BMWK ein Sonderkapitel »Wohlfahrtsmessung und gesellschaftlicher Fortschritt«. Ausgangspunkt des Ministeriums ist, dass das Wirtschaftswachstum nicht der allein ausschlaggebende Maßstab sein dürfe, denn es gebe »weitere Aspekte von Wohlfahrt und Nachhaltigkeit«. Die individuelle und damit auch die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt hingen von weit mehr als nur den wirtschaftlichen Rahmendaten ab, so das Ministerium und nennt eine ganze Reihe von Faktoren: von der Wirtschaftsleistung pro Einwohner, über Ungleichheit, Arbeitsproduktivität und Erwerbstätigenquote bis zu Themen wie Gesundheit, Bildung, Erreichbarkeit sozialer Einrichtungen, Treibhausgasemissionen und so weiter.
Zunächst scheint es so, als würde hier die Bedeutung des Wirtschaftswachstums relativiert. Tatsächlich aber taucht es in dem Bericht immer wieder auf als selbstverständliche Bedingung allen Wirtschaftens. Laut Jahreswirtschaftsbericht »basiert die Lebensqualität der Menschen in Deutschland zu wesentlichen Teilen auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dieses Landes. Sie sichert und schafft neuen materiellen Wohlstand«. Diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wiederum werde »maßgeblich von der Arbeitsproduktivität und dem Arbeitsumfang geprägt«. Damit sei die »Steigerung der Produktivität langfristig ein zentraler Treiber der Wohlstandsentwicklung«. Die Produktivität, so das BMWK, muss also zunehmen, pro Arbeitsstunde muss mehr BIP erwirtschaftet werden, um »langfristiges Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit« zu sichern. Unter dieser Maßgabe gehe es dann nur noch darum, »gleichzeitig die ökologischen Grenzen zu berücksichtigen«.
In dem Bericht wird das Wachstum also zunächst zu einem Faktor unter vielen herabgestuft, dann aber als notwendige Bedingung für Wohlstand und Lebensqualität und Innovation wieder rehabilitiert – nach der Logik: Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts, weshalb es zu umweltschonendem Wachstum keine Alternative gebe. Dahinter steht – wie bei von der Leyen – die Annahme, kapitalistisches Wachstum ließe sich mit Klimaschutz vereinbaren. Daran zweifeln aber mittlerweile nicht mehr nur Ökoaktivist*innen, sondern auch Thieß Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann-Stiftung. In der jüngsten Ausgabe der renommierten Ökonomie-Zeitschrift »Wirtschaftsdienst« macht Petersen eine einfache Rechnung auf – und zieht aus ihr einen bemerkenswerten Schluss.
Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums hängt davon ab, so Petersen, ob das Wachstum von der Umweltbelastung entkoppelt werden kann – ob also das BIP zulegen kann, ohne dass die Emissionen von Treibhausgasen ebenfalls zunehmen. Laut Petersen ist dies in Deutschland zwischen 1990 und 2022 ein Stück weit gelungen: Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP lag bei 1,25 Prozent. Gleichzeitig nahm das Emissionsvolumen im Durchschnitt um 1,58 Prozent pro Jahr ab. »Der Umstand, dass das Emissionsvolumen trotz eines steigenden realen BIP zurückging, ist darauf zurückzuführen, dass der Rückgang der Emissionsintensität mit durchschnittlich 2,84 Prozent pro Jahr vom Betrag her größer ausfiel als der prozentuale Anstieg des BIP«, so Petersen. »Grünes Wachstum war also in den vergangenen drei Jahrzehnten für die deutsche Volkswirtschaft bereits Realität.«
Soweit die gute Nachricht. Die schlechte: »Das bisherige Tempo der Entkopplung reicht keinesfalls aus, um bis 2045 das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.« Wachse das BIP weiter wie bisher um durchschnittlich 1,25 Prozent pro Jahr – was als schwacher Wert gilt – dann »müsste die Emissionsintensität jedes Jahr um durchschnittlich 11,3 Prozent sinken, also vier Mal so stark wie in den vergangenen 30 Jahren«. Schrumpfe die Emissionsintensität bis 2045 allerdings nur mit der Rate der vergangenen drei Jahrzehnte, also um 2,84 Prozent pro Jahr, erreiche Deutschland das Ziel der Klimaneutralität 2045 nur, wenn das reale BIP ab sofort jedes Jahr um durchschnittlich mehr als sieben Prozent sinke. Das aber dürfe nicht sein aufgrund der zu erwartenden »erheblichen Einkommenseinbußen« und den »damit verbundenen Wohlstands- und Arbeitsmarkteffekten«. Wirtschaftspolitische Priorität in Deutschland sollten laut Petersen daher Maßnahmen haben, die die Entkopplung der Treibhausgasemissionen von der wirtschaftlichen Aktivität vorantreiben – also genau jene Maßnahmen, die in der Vergangenheit schon nicht ausreichend funktioniert haben.
Die Argumentation folgt dem seit Jahrzehnten gängigen Muster der Debatte: Zunächst wird festgestellt, dass Wachstum nur bei Entkopplung vom Umweltverbrauch funktioniert. Dann wird zweitens festgestellt, dass die Entkopplung wahrscheinlich nicht reicht, weswegen drittens eine ökonomische Schrumpfung nötig wäre, die aber viertens nicht sein darf, weswegen wir fünftens so weitermachen wie bisher und auf das Beste hoffen müssen.
Keine Rolle spielt dabei die zentrale Frage, warum im herrschenden Wirtschaftssystem der materielle Wohlstand davon abhängt, dass er mehr wird – warum Stillstand also nicht Stabilität bedeutet, sondern Krise, Arbeitslosigkeit und Armut. Petersen streift diesen Punkt kurz, wenn er festhält, dass ein schrumpfendes BIP »nicht zwingend negativ für die Wohlfahrt der Menschen sein muss. Wenn sich beispielsweise die Lebensdauer von Waschmaschinen verdoppelt, halbieren sich langfristig die Nachfrage und Produktion nach diesem Konsumprodukt. Damit sinkt das reale BIP – aber für die Lebensbedingungen der Menschen ist das keine Verschlechterung, weil die von der Waschmaschine erbrachte Leistung unverändert bleibt. Dennoch würde eine flächendeckende Reduzierung wirtschaftlicher Aktivitäten eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen nach sich ziehen. Zu nennen sind vor allem die steigende Arbeitslosigkeit und wachsende Verteilungskonflikte.«
Vom Bedürfnis der Haushalte nach sauberer Wäsche her gesehen reicht eine langlebige Waschmaschine aus. Doch das Bedürfnis der Unternehmen nach Wachstum erfordert regelmäßig die Anschaffung immer neuer Waschmaschinen, weil sonst Umsätze und Gewinne nicht steigen und Unternehmen daher ihre Belegschaften entlassen – schließlich existieren diese Belegschaften nur als Mittel für Profit und Wachstum. Dieser Widerspruch ließe sich nur auflösen, wenn die Produktion den Bedürfnissen der Menschen untergeordnet und dem »Wachstum« damit seine Notwendigkeit genommen würde.
Während die Wirtschaftsleistung in Deutschland im zweiten Quartal stagnierte, lief es in anderen großen EU-Ländern besser. So meldete Frankreich ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,5 Prozent gegenüber dem Vorquartal. In Spanien gab es ein Plus von 0,4 Prozent. Die Länder im Süden Europas profitieren von einer guten Tourismussaison.
Laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) schrumpft die deutsche Wirtschaft im gesamten laufenden Jahr um 0,3 Prozent. Die Commerzbank rechnet sogar mit einem Minus von 0,5 Prozent. Insgesamt gehe das Wachstum in den reicheren Industrieländern dieses Jahr von 2,7 auf 1,5 Prozent zurück und werde auch nächstes Jahr nicht über 1,4 Prozent hinauskommen, so der IWF. kau
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