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Martin Walser: Der Schmerzenslächler

Schöne Haltlosigkeit zwischen den Widersprüchen: Zum Tod des Schriftstellers Martin Walser

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein Mann der Nachklänge: »Ich huste, also bin ich.« Martin Walser 2010 in Meiningen vor einer Theaterprobe.
Ein Mann der Nachklänge: »Ich huste, also bin ich.« Martin Walser 2010 in Meiningen vor einer Theaterprobe.

Seine Essays und Tagebücher sind Verräter. Sie bleiben keiner Sache treu, wechseln Stimmung und Sinn. Sie verraten das Große an das Kleine, das Hohe an das Niedere, das Kindliche an das Klügelnde. Und umgekehrt. Sie legen offen: Leben ist Turbulenz und Gleichförmigkeit in einem. Über seine schriftstellerischen Erfolgsjahre (vom Roman »Ein fliehendes Pferd« bis zum »Muttersohn«) sprach Martin Walser mit entwaffnender Klarheit – er kannte bei Lesungen sein Publikum: »Zu mir kommen die, die wie ich sind, die Verkrampften.«

Immer wieder erwies er sich als grandioser Romancier der eigenen Existenz. Das Gütige und das Gefräßige, das Transzendente und das Triviale, das Gockelhafte und das Demütige, die Geldfragen und die Geltungsmühen, das Peinvolle und das Peinliche – all das bildet im Werk (»Ehen in Philippsburg«, »Brandung«, »Der Lebenslauf der Liebe«) ein berückendes Geflecht der Gleichzeitigkeit. Der Autor – bleiben wir bei den grazilen Essaybänden, etwa »Querfeldein«, »Die Verwaltung des Nichts«, »Liebeserklärungen« – war ein melancholisch Klagender und frohgemut Berauschter, ein ungehemmter Plauderer und gezielter Polemiker. So radikal selbstbekennerisch, dass im Mittelpunkt stets die eigene Angreifbarkeit stand, die reizvolle Unsicherheit, die schöne Haltlosigkeit zwischen den Widersprüchen.

Er ist eine einzige Zitierverführung: »Der normale Wahnsinn als das Produkt aus Wetter, Nerven und Arbeit. Nichts als Unverhältnismäßigkeit.« Oder: »Die Menschen wohnen schlecht. Viel besser wohnen die Waren. Am besten wohnt das Geld.« Bestechende Psychologie: »Man antwortet nicht als der, der man ist, sondern als der, der gefragt wurde. Das ist der, der man ist, plus der, der man durch die Frage wird.«

Sprache ist ihm jenes wertvolle Vermögen gewesen, das mit jedem gefundenen Wort doch wieder versiegt. Schreiben hieß: Sprache schützen vorm biederen Berichterstatter. Schriftsteller bewohnen andere Welten als Richtigsteller. Ehrlich schreiben heißt: frei sein – und trotzdem erfahren müssen, was Entfremdung ist: »Jeder ist verpflichtet, etwas zu nützen. Das ist die Grenze der Freiheit. Allein ist er nichts. Also gehört er dazu. Das Dazugehören heißt, dass er etwas tun muss, wovon andere etwas haben. Davon kann sich keiner freisprechen.«

Walser hatte nie ein geschädigtes Deutschland vor sich, er hatte es in sich. Das hatte es in sich. Nicht: Ich weiß, sondern: Ich leide. Und zwar an etwas Unhaltbarem, daran er beteiligt blieb. Er war Sympathisant der DKP, ohne je Parteimitglied zu sein. Er protestierte vehement gegen den Vietnamkrieg – damals erschien ihm zum Beispiel die Gruppe 47 ebenso »reaktionär wie die FAZ«. In dieser Frage falscher westdeutscher US-Solidarität habe ihn auch Brandt sehr enttäuscht, so sah er forthin keinen Anlass mehr, sich in irgendeiner Form um die SPD zu kümmern. Und, ein Satz vom Dezember 1988: »Seit ich die deutsche Teilung öffentlich unerträglich nenne, nennt mich jeder Linke nationalistisch.« Diesen Beißern sind die Zähne längst ausgefallen.

Und das Gedenken an die nazistische Finsternis? Es bedarf Erinnerung – statt Pose. Forderte Walser. Missverstanden und angepöbelt von Leuten, die ihn nie wirklich gelesen haben. Erregt, aufgewühlt hat er vom Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main berichtet. Seit Auschwitz, so sein dauerwirkender Satz in westdeutschen Blütezeiten, sei kein einziger Tag vergangen. Man lese die Bücher »Über Deutschland reden« und »Unser Auschwitz«, sie sind eine gestrenge Bitte um weniger Verlogenheit – in dem, was wir an Antifaschismus gesellschaftlich für erreicht halten. Also: Härter hineinleuchten in die Nachtseite der Aufklärung, wo wir ehrlicher sind als auf Podien und Parteitagen.

1998 hielt er seine Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche. Er sagte: »Gewissen ist nicht delegierbar«, es gab für ihn keine staatlich regulierbare und für jeden gleich gültige Schuldgefühls-Dosierung, auch nicht in den schwerwiegendsten historischen Dingen. »Wer das will, erzieht Heuchler.« Ganze vier Wörter, so Walser im großen nd-Interview, habe man in den »Richterämtern des Feuilletons« von seiner Rede übriggelassen: »Schlussstrich (das nicht vorkommt), Wegschauen (das nur auf das Fernsehen bezogen war), Instrumentalisieren (das nur eine erkennbare intellektuelle Praxis meinte) und Moralkeule. Auf diese Wörter hat man mich reduziert und für böse befunden.«

Des Redners eigener Nachsatz zum Wirbel um diese Ansprache: »Ich weiß inzwischen, dass ich einen Fehler gemacht habe: Ich wollte über das Gewissen reden und darüber, dass es nicht delegierbar sei. Aber verglichen mit dem Tatbestand Auschwitz ist das alles Quatsch.« Sein Sohn Jakob Augstein warf ein, er kenne die Lust seines Vaters am Reizwort, also glaube er ihm nicht jede Verwunderung darüber, dass es Fettnäpfe in der Welt gibt. Aber: Er sieht in jenem öffentlichen Selbst-Gespräch des Vaters in der Paulskirche nach wie vor auch »das ultimative Experiment auf der Suche nach der freien Rede«. Speziell über deutsche Geschichte. Sie wurde immer wieder Roman. Zum Beispiel »Ein springender Brunnen«, das Buch über die Bodensee-Kindheit. Darin die wunderbare Warnung vor Geschichtsreinigung: »Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.«

Walser hat mehrere Romane über das Alter geschrieben (»Angstblüte«, »Statt etwas oder Der letzte Rank«). Die Gestalten am Lebenspunkt, wo sie alles haben, jedoch nichts mehr Bestand hat – und das Wünschen erbarmungswürdig wird. Weil es nur ein Illusionsschneewehen ist im Hochsommer der anderen. Bücher über das Verwittern, die altersgeile Lustträumerei, die Krämpfe des letzten Dazugehören-Wollens. Nichts entspricht im Alter so innig einander wie Sehnsucht und Enttäuschung, wie Überschwang und Überdruss. Walsers Spätwerk, das sind sprachkönigliche Erzählungen über das Gemisch aus bemoosten Erwartungen, trotzigen Verlockungen und einem lüstern gebliebenen Begehren, das doch seine Zugehörigkeit zur Gattung der Nachklänge nicht verbergen kann. »Ich huste, also bin ich.«

Die Roman-Figuren, von denen viele aus dem Mittelstand kommen, entfalten eine forcierte Geselligkeit des Kleinstirnigen. Wohlstandsgepolsterte Leerkörper. Seelen, krumm geworden durch Arbeit am Status. Aber mit Dichterverständnis reich ausgestattet. Denn auch das bleibt eine Wahrheit dieser Literatur: Kleinbürger-Sein ist ein Zeichen für Emanzipation, für die geschmeidige, stille Bereitschaft, gegen Moralisten und Belehrer durchs Leben zu kommen. Das schätze niemand gering.

Walser, Jahrgang 1927, der westdeutsche Hörfunk-Pionier, der Dramatiker (»Der schwarze Schwan«, »Eiche und Angora«) – er verweigerte Moral als Kette, mit der man angeschlossen wird an das, was allgemein zu gelten hat. Nein, sagt Walser in seiner Prosa, bitte immer nur Erfahrungshörigkeit statt Heilsgläubigkeit; bitte nur immer heimisch sein in all jener Uneindeutigkeit, über die ein Ich verfügt.

Ironie entsteht, wo man Verhältnisse anerkennt, ohne in ihnen aufzugehen. Also, sagt diese Literatur, leb souverän in dem, was dir fehlt. »Fühl dich so unwichtig, wie du bist. Wenn dir das gelingt, darfst du bersten vor Stolz.« Erheb dich über den Weltmangel, und schon verliert der seine Herrschaft. So wurde Walser Fortsetzer einer Ironie, die Kierkegaard und Kafka begründeten. Ein Schmerzenslächler.

Notizen-Bücher (»Meßmers Momente«, »Meßmers Gedanken«, »Meßmers Reisen«) bündeln Augenblickserlebnisse, Innenbilder, Traumschrecken; aphoristisch kristallin oder impressionistisch so hingetupft, dass Farben aquarellfreudig ineinanderfließen. Meßmer ist Walsers Maske, und jede Maske strahlt bekanntlich die Melancholie eines aufrichtigen Geständnisses aus. Denn sie sagt von uns: Ich bin anders, als ich scheine, aber ich scheine, wie ich im Grunde sein möchte. Im Gesellschaftsgewässer heißt das: Steu’re gegen – pflege dein Untalent zum Manövrieren um beste Fahrrinnen! Just da, wo alles durch die Finger rinnt, just da krallt der Eigensinn wie ein Anker. Ein Anker, in die Luft geworfen, als sei dies ein fester Grund. »Schiffe bäumen sich, wenn sie untergehen, auf. Fasse dich nicht. Bleib die Antenne für Verhängnis.«

Zu seinen schönsten Büchern gehört der Balladenband »Das geschundene Tier«. Ein einziger unverblümter Empfindungsgesang. Tod und Eros, Leben und Vergehenspathos zu groß, dann wieder so gnadenlos lapidar, wie man nur schreiben kann, wenn man sehr jung oder eben sehr alt ist. Vier-, Fünf-, Sechszeiler, die vom Schwebetalent des Menschen erzählen, auf einem Blatt auf dem Wasser zu gleiten – indes er auf festem Boden untergeht.

Nun ist Martin Walser mit 96 Jahren in seiner Heimat am Bodensee gestorben. Wie er sich die Beerdigung vorstellte? »Morgens um fünf, in Wasserburg, außer Käthe und meinen Kindern keine Zeugen. Beerdigung einer Urne.«

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