- Politik
- Frauenbilder in den Medien
Sexbombe oder Opfer
Corinna De Cesare will mit ihrem feministischen Newsletter »The Period« einen medialen Wandel vorantreiben
Jeden Morgen sitzt Corinna De Cesare bei einer Tasse Kaffee vor ihrem Laptop und nimmt die italienischen Nachrichten durch ihre »feministische Linse« unter die Lupe, wie sie selbst sagt. Ihrem kritischen Blick entgeht kein Detail. So dauert es nicht lange, bis sie auch diesmal fündig wird. Eine Schlagzeile dominiert die Titelseiten: »Rom, Tragödie im Krankenhaus: Junge Mutter schläft beim Stillen ein. Kind erstickt an den Folgen.« Die Botschaft, die den Leser*innen suggeriert wird, sei laut der Journalistin eine eindeutige Schuldzuweisung an die Mutter: Das Kind ist erstickt, weil seine Mutter weggedöst ist.
Niemand habe dagegen darüber berichtet, dass Frauen während der Schwangerschaft und bei der Geburt oft alleingelassen würden. »Gewalt von Geburtshelfer*innen ist ein weitverbreitetes Phänomen in Italien, über das nur wenige sprechen«, so De Cesare. Die Mailänderin weiß genau, wovon sie redet. Bereits 2016 schilderte sie ihre eigenen erschütternden Erfahrungen bei der Geburt ihres Kindes in einem Artikel der italienischen Tageszeitung »Corriere della Sera«, für die sie 15 Jahre lang arbeitete.
Damals wollte De Cesare die Öffentlichkeit für die Rechte von Müttern sensibilisieren. Unzählige Frauen reagierten in Leserinnenbriefen und im Internet auf ihre Bekenntnisse. »Sieben Jahre sind seitdem vergangen, doch die Forderungen der Frauen nach besserer Betreuung werden offensichtlich von der Politik ignoriert«, so die Medienschaffende. Kein Einzelfall. Seit drei Jahren macht die 39-Jährige in ihrem wöchentlichen Newsletter »The Period« deutlich, dass es sich um ein patriarchales System handelt, das in Italien tief verwurzelt ist.
»Male Gaze« in den Medien
»Frauen werden in den italienischen Medien häufig als Sexsymbole, Opfer oder Mütter dargestellt. Selten dagegen in ihrer Komplexität als Berufstätige.« So gäbe es weder weibliche Expertinnen für Außenpolitik noch Diplomatinnen, Ingenieurinnen oder Astronautinnen, die in den Medien vorkämen, erklärt sie. Für diesen »Male Gaze« – also eine rein männliche Sichtweise – ist ihrer Meinung nach der hohe Männeranteil in den Redaktionen verantwortlich. »Die Entscheidung, welche Nachrichten relevant sind, treffen fast immer ausschließlich Männer. Ihre Augen filtern das, was Zeitungen oder Fernsehsender am Ende veröffentlichen.«
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Diese geschlechtsspezifische Ungleichheit an der Spitze der italienischen Medienlandschaft belegt auch eine Studie, die 2022 von der internationalen Community »WomenX Impact« in Auftrag gegeben wurde. Demnach sind 86 Prozent der Chefredakteur*innen und Herausgeber*innen aller Tageszeitungen männlich. Bei den Wochenzeitungen sind es 77 Prozent und auch die sieben Nachrichtensendungen der großen TV-Sender werden allesamt von Männern geleitet. Damit ist Italien in Europa weit abgeschlagen. Im Vergleich dazu stieg in deutschen Leitmedien der Anteil von Frauen in Führungspositionen von 13,7 Prozent (2012) auf inzwischen 38,9 Prozent – und in Spanien und Großbritannien ist sogar die Hälfte aller Führungspositionen mit Frauen besetzt.
Auch der feministische Newsletter »The Period« entstand aus De Cesares Frustration darüber, nicht über jene Themen schreiben zu können, die sie wirklich beschäftigten. Weder schien im »Corriere Della Sera« Platz dafür zu sein noch konnte die Redakteurin die Kolleg*innen für einen neuen Umgang mit Sprache sensibilisieren. »Ich war diejenige, die die Chefredakteure ständig anrief, um ihnen mitzuteilen, dass der Titel eines Artikels meiner Meinung nach zu sexistisch war oder dass es zu wenige Bilder von Frauen in der Zeitung gab. Leider wurde mir nicht zugehört.« 2019 gründete sie schließlich ihr eigenes, unabhängiges Medien-Start-up, um einen kritischen Blick auf die täglichen Informationen zu werfen.
»Wenn ich schon innerhalb des Systems nichts bewegen konnte, musste eben etwas Neues her«, so De Cesare. Mit 13 000 Abonnent*innen und knapp 40 000 Followern auf Instagram zählt »The Period« heute zu den bekanntesten feministischen Portalen in ganz Italien. Viele der überzeugten Leser*innen sind mittlerweile zahlende Unterstützer*innen geworden und haben dazu beigetragen, dass aus dem Newsletter eine Community wurde.
Für den Namen ließ sich De Cesare zum einen vom Oscar-prämierten Dokumentarfilm »The Period – End of Silence« inspirieren, der vom Tabu der Menstruation in Indien handelt. Zum anderen wollte sie im Sinne des englischen Satzzeichens »period«, das einen Zeilenumbruch markiert, einen Neuanfang wagen: »Nicht nur für mich, sondern auch im Hinblick auf die Erzählweise von Tatsachen.« Denn was in Italiens Medienlandschaft gang und gäbe ist, macht auch vor der Politik nicht Halt. So ist die Zahl der weiblichen Abgeordneten von 35 Prozent auf 31 gesunken (weniger als der europäische Durchschnitt von 32,8 Prozent).
Vor Kurzem stimmte der Senat gegen die Richtlinie der Europäischen Kommission zur grenzüberschreitenden Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eltern. Auch die Forderungen berufstätiger Mütter nach mehr Unterstützung finden wenig Beachtung. In Italien gibt jede fünfte Frau ihren Beruf auf, sobald sie Mutter wird. 31 Prozent der Frauen arbeiten in Teilzeit. Denn: Kinderbetreuungsangebote sind knapp oder viel zu teuer, Elterngeld umfasst nur 30 Prozent des Lohns für maximal sechs Monate. »Das ist nach Mexiko, der Türkei und Portugal das größte geschlechtsspezifische Ungleichgewicht in den OECD-Ländern«, macht De Cesare die dramatische Situation deutlich.
Genau das ist wohl auch eine Ursache für das neue Rekordtief der italienischen Geburtenrate. Mit weniger als 400 000 Geburten pro Jahr ist Italien Schlusslicht in Europa. Für Premier Giorgia Meloni, die sich gern als »Frau, Mutter und Christin« bezeichnet, ein Grund, sich ideologisch auf das Muttersein zu besinnen. Für die Neofaschistin bedeutet dies jedoch nicht unbedingt mehr Gleichberechtigung. »Mit Giorgia Meloni hat sich das Patriarchat in Rosa gekleidet«, so De Cesare. »Sie spricht weiterhin nur von Müttern, ohne jemals die Väter zu erwähnen, die es auch gibt und die Verantwortung, etwa durch häusliche Lastenteilung oder Vaterschaftsurlaub, tragen sollten.«
Künftig könnten die politischen Leitlinien sogar noch stärkeren Einfluss auf die Berichterstattung haben. Erst im Mai ernannte der Verwaltungsrat der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt Rai – der unter anderem aus Parlaments- und Regierungsmitgliedern besteht – seine neuen Direktoren und Nachrichtensprecher*innen. Langjährige bisherige Galionsfiguren wie Fabio Fazio oder Lucia Annunziata traten dagegen zurück und erklärten, dass sie sich aufgrund der Einmischung der rechten Regierung nicht mehr frei fühlten und – »keine politischen Gefangenen« sein wollten.
Kritiker*innen befürchten, dass damit die neue Ära von »Tele-Meloni« eingeläutet werde, die zu einer einheitlichen Kontrolle der Informationen führen und dazu beitragen könne, patriarchalische Stereotype noch weiter zu festigen. Um dieses System zu durchbrechen, veröffentlicht De Cesare in »The Period« neben inspirierenden Kolumnen von Autor*innen aus den Bereichen Journalismus, Literatur sowie Social Media auch eine wöchentliche Presseschau.
In dieser analysiert sie sprachlich, wie italienische Medien Nachrichten darstellen und wie sich die Wahrnehmung des Inhalts mit einer Umformulierung ändert. Ein Beispiel dafür ist der mediale Umgang mit Frauenmorden: Die Aktivistin kritisiert, dass die weiblichen Opfer »verkindlicht« und nur beim Vornamen genannt würden. Bei Männern sei dies nicht der Fall. Doch das ist nicht alles. In einem Instagram-Post kommentiert sie kritisch die Schlagzeile zu einem Mordfall Anfang des Jahres:
»Verliebt in Carol wie ein Zwölfjähriger«. So beschrieb ein psychiatrisches Gutachten den Mörder von Carol Maltesi. Grund genug für die Presse, diesen Satz aufzunehmen und so wiederholt einen Frauenmord zu romantisieren.
Sicher ist: Initiativen und die Kritik von Medienschaffenden wie Corinna De Cesare sorgen kontinuierlich für ein Umdenken in einigen Redaktionen. So erzählt Stefania Aloia, stellvertretende Redaktionsleiterin der zweitgrößten italienischen Tageszeitung »La Repubblica«, dass ein interner Vorfall zur Gründung einer »Beobachtungsstelle für Frauenmorde« innerhalb der Zeitung geführt hat. »Ich bin mir sicher, dass niemand in unserer Redaktion jemals wieder auf die Idee kommen wird, eine Nachricht mit ›Aus Liebe getötet‹ zu betiteln«, so Aloia.
Austausch mit den Leser*innen
Für De Cesare ist eines der größten Probleme, dass klassische Medien den Kontakt zu ihrem Publikum verloren haben. Deutlich wird dies auch im 2022 veröffentlichten Digital News Report des Reuters Institutes. Demnach meiden in Italien 36 Prozent der Bevölkerung Nachrichten ganz oder teilweise. Als Gründe gaben die Menschen an, dass zu viel über Politik und Covid gesprochen werde (43 Prozent), dass die Nachrichten sich negativ auf ihre Stimmung auswirkten (36 Prozent) oder dass die Nachrichtenflut sie erschöpfe (29 Prozent).
Um sich erneut mit den Bedürfnissen ihrer Leser*innen zu verbinden, entschied sich die Mediengründerin statt eines klassischen Onlinemagazins für einen Newsletter, der unmittelbar im Postfach der Abonnent*innen landet. »Ich wollte einfach wissen, wer meine Leser*innen sind und was sie bewegt, um gemeinsam etwas zu verändern. Und zwar nicht nur im Journalismus, sondern im Leben.«
In einer Telegram-Gruppe tauschen sie sich beim »Feierabend-Aperitif« aus oder nehmen am Book-Club und Events teil, welche De Cesare organisiert. »Manche habe ich schon persönlich kennengelernt. Eine von ihnen holte neulich sogar das alte Babybett meiner Tochter ab«, freut sich De Cesare. »The Period« sei der Beweis, dass ihr persönliches Bedürfnis nach einer neuen weiblichen Perspektive auch eine kollektive ist. Diese zu stärken, lohne sich mehr als je zuvor.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.