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Literatur in der DDR: Das feingesponnene Silber
Zum 90. Geburtstag des Dichters Reiner Kunze
Diese Verse sind Schmelze bis auf den Kern; der leuchtet, ist kristallin – und diamanten: »Auch dem vers ist’s versagt,/ leichter zu sein/ als sein gewicht.« Diese Poesie besitzt eine Zartheit, die unantastbar bleibt. Gedichte, so Reiner Kunze, gleichen einem Blindenstock des Autors, »mit ihm berührt er die dinge/ um sie zu erkennen«. Jeder Weltanschauung überlegen, deren Blindheit die Dinge einordnet, bevor sie berührt werden.
In dem Bergarbeitersohn aus Oelsnitz, 1933 geboren, arbeitet seit jeher die Gabe der faszinierenden, eingänglichen Bilder. Mit den Jahren hat sich seine Dichtung mehr und mehr ins Geheimnis des Unausgesprochenen gewagt. Poesie ist für Kunze etwas Frommes, sie ist im Zerbersten der Verhältnisse ein bittend leises Ja zum Leben. Er weiß, warum Menschen die Stille gern meiden: weil wir sonst, wie es in einem Vers heißt, die Schuld knien hörten, in uns. Das Leben darf niemand, will er Mensch bleiben, auf eigene Rechnung führen, aber kompromisslos muss er es – so der Titel eines Gedichtbandes – »Auf eigene Hoffnung« tun.
Vom Dichter Peter Huchel hat Kunze gesagt, er rezitiere seine Gedichte, »als lese er sie weg von der Welt«. Genau so schreibt Kunze. Um das Unmögliche, weil Höchste zu versuchen: sich empfindlich und zugleich geschützt zu halten durch Auffinden des rettenden Wortes. Es geht darum, in einer Schwebe zu verharren, sich niemals infizieren zu lassen vom Erstarren der Zeitläufte, ihrem pressend Geordneten, ihrer Drohung mit giftigen Gesetzmäßigkeiten. Das ist Gelingen: den Dingen die Freiheit ihrer Rätsel lassen und versuchen, das Erwartungsvolle in uns mit dem Zweifelnden in eine Trost spendende Versöhnung zu bringen. »Wer Hand an das Schöne legt, legt Hand an den Menschen.«
Die Bücher Kunzes wenden sich ab von jenem Selbstgewissen, der mit Ideologie nur so um sich wirft, der aber mächtig ins Stottern käme, stellte man ihm die einzig relevante Frage: wie er denn seine geschichtlichen Projektionen glaubhaft mit der Tatsache verbindet, dass er doch keinerlei Gründe für seine eigene Existenz geltend machen kann. Wir begreifen die Welt nicht, wir erleben die Welt.
In einem Gedicht beschreibt Kunze den »Rest einer alten Gartenhecke«, Weißdorn und Rotdorn. »Die zweige schäumen/ rot in weiß,/ weiß in rot// holz, das blüht/ auf leben und tod«. Da ist sie, die Zusammengehörigkeit des Blühens mit dem Vergehen; alles Sehnen und Streben geht ins Ungewisse. Dorthin, wo wir uns fest auf die Zweideutigkeit der Zeichen verlassen dürfen.
Der Dichter antwortet schreibend auf einen Mangel, der aus menschlichem Miteinander wächst und sich Gesellschaft nennt. Oder Politik. Seine Antworten auf den Mangel beheben diesen ganz und gar nicht. Aber Schreiben (und Lesen!) macht den Mangel doch anschaubarer. Und Poesie braucht man, um stärker zu sein, als man tatsächlich ist. Die Geschichte der Vernunft ist bekanntlich nicht sehr befreundet mit der Konkretheit des Daseins. Der Preis, bei sich zu bleiben, ist hoch. »Wer letztlich recht bekommt/ vom leben, stirbt/ einsam.«
»Sensible Wege« (1969 im Westen erschienen, gewidmet dem tschechischen und slowakischen Volk), »Zimmerlautstärke«, »Die Stunde mit dir selbst« – diese Buchtitel verweisen auf ein Dasein abseits der Hauptstraßen, erzählen von Kunzes Leben in der DDR: jahrelangem Zwang zur Gedämpftheit beim Verbreiten der Wahrheit. »Sie wollen nicht deinen flug, sie wollen/ die federn.« 1977 verlässt Kunze mit seiner Familie das Land, er lebt seither in Bayern.
Nach frühem, praktiziertem Idealismus, der in die SED-Mitgliedschaft führte und in die Journalistik-Lehre, arbeitete sich an ihm aller Hass, alle Schikane ab, zu der staatliche Verfolgungssystematik fähig war. 1973 erscheint zwar bei Reclam noch die Gedichtsammlung »Brief mit blauem Siegel«, aber die traurige Gnade des Exils, dem wegen Westveröffentlichung des Buches »Die wunderbaren Jahre« der Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband vorausgeht, ist nicht mehr abzuwenden. Ein IM-Bericht 1976: »Frau J., die mit Kunze im Haus wohnt, äußerte, daß es der Kunze gar nicht wert ist, bei uns so human behandelt zu werden, denn der Kunze ist für sie ein Spitzel der BRD und gehört hinter Schloß und Riegel.«
»Die wunderbaren Jahre« ist ein schonungsloses Buch. Es erzählt in Gedichten und Miniaturen jene andere DDR, die es auch gab, die es aber offiziell nicht geben durfte: die Militarisierung der Gemüter, den ideologischen Drill, die Zweizüngigkeit, den einschüchternden Unterstrom so vieler Lebensprozesse. Eine Kampfansage.
Aus den propagandistischen Etagen sprühte es daraufhin Gift und Galle. Ein einziger Dichter ist es, der schon sehr früh deutliche Verse gegen den sich abzeichnenden Jagdeifer schreibt: Volker Braun. »R.« heißt das Gedicht. Fragend, traurig, zornig. »Darf auch nur ein Mensch/ Verlorengehn?// Hier?« Reiner Kunze geht nicht, er wird gestoßen, er formt so mit an jener unglückseligen Reihe, von der es viele Jahre später, in der Agonie des Staates, sehr offiziell und sehr schandbar heißen wird, man weine solchen Leuten keine Träne nach.
Kunzes Abkehr von Doktrinen, seine Einkehr: »Nicht noch einmal/ so verführbar// Nicht noch einmal/ so gefährdet// Nicht noch einmal/ eine mögliche gefahr.« Das sind auch Zeilen gegen Leute, die es immer wieder schaffen, sich völlig schmerzfrei in ihrem Weltbild aufzuhalten, also auch in den dialektisch gewundenen Begründungen ihres Versagens. Horst Drescher, der Leipziger Schriftsteller, hat solches Macht-Verhalten, das nur immer steinfeste Standpunkte zeugt, auf einen beklemmenden psychologischen Punkt gebracht: »Menschen, die man auf dem Gewissen hat, bleiben einem irgendwie unsympathisch; unsympathisch auch dann noch, wenn man ihnen sozusagen schon lange verziehen hat, dass man sie auf dem Gewissen hat.«
1990 fanden Mitglieder eines Bürgerkomitees auf einer Müllkippe bei Pößneck fast 3500 Blätter Stasi-Denunzierprosa wider Kunze. Das daraus entstandene Buch »Deckname Lyrik« ist eines der erschütterndsten Zeugnisse staatlich organisierter Seelenverwüstung. »Misstrauen säen … Angst schüren … ins Verbindungssystem des K. eindringen … Gerüchte über die Ehefrau streuen … psychische Labilität des K. ausnutzen ... Wohnung aufklären … aufweichen … zersetzen.« Das Buch ist ein Protokoll der schmählich tückischen Umzingelung durch Spitzelmacht. Und dies wegen einer Dichtung, die Mut machte. Friedrich Schorlemmer, danach befragt, was ihn damals als Bürgerrechtler in der DDR standhalten ließ im ständigen Anwurf der Oberen, sagt immer wieder: auch und gerade die Gedichte von Reiner Kunze!
Dieser Dichter ist ein Mensch, der mit dem Verweis auf die eigene Stirn darauf besteht, mit dem Geist dahinter eine gewisse Grundhärte zu verbinden. Der Panzer ist nicht Eisen, er heißt Gedächtnis. Es beharrt auf der Rechtmäßigkeit eines Machtlosen, der seine Erfahrungen nicht zu entwürdigen bereit ist.
Verse dieses großen Dichters zu lesen, ist glückhafte Kapitulation: Es ist beseelende Unterwerfung unter einen Ton, der irgendwann in uns anschlagen kann, lebensrettend. Das Gedicht »Nach einem Cembalokonzert« erzählt, wie. »Im gehör/ feingesponnenes silber, das mit der zeit/ schwarz werden wird// Eines tages aber wird die seele/ an schütterer stelle/ nicht reißen.«
An diesem Mittwoch, dem 16. August, wird Reiner Kunze 90 Jahre alt. Ein Leben auf den beschworenen sensiblen Wegen. Jedes Wort eine Antwort auf ein anderes, bis hinab an den Grund aller Rede, wo sich seit Urzeiten ein Ton erhält aus Furcht und Ehrfurcht. Ein Weg mit erhobenem Kopf: Geh hinaus, geh ins Offene. Aber der Poet sieht auch das Spalier aus Immerdar: »Stumm stehn am ausgang die verluste.«
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