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  • Roman »Sprich mit mir«

Schreiben für das Schweigen

Was von der gewalttätigen Linken Italiens der 70er Jahre übrig blieb: »Sprich mit mir« von Lidia Ravera

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland lebt die Hälfte der Menschen über 65 allein, oftmals in viel zu großen Wohnungen. Vor allem Frauen sind betroffen. So resümierte unlängst der Journalist Stefan Schulz in seinem Buch »Die Altenrepublik« Zahlen des Statistischen Bundesamts. Mit Blick auf die Demographie ist (neben vielem anderen) auch Einsamkeit im Alter ein Thema, das uns viel mehr beschäftigen sollte – und in Zukunft auch noch mehr beschäftigen wird.

Da passt es gut, dass die italienische Autorin Lidia Ravera unter dem Titel »Sprich mit mir« nun einen Roman zu (unter anderem) diesem Thema geschrieben hat. Giovanna ist sechsundsechzig und lebt allein in einer geräumigen Wohnung am Tiber-Ufer in Rom. Sie ist geschieden, hat keine Kinder, keine Freunde, ihre Eltern sind vor vielen Jahren bei einem Autounfall gestorben. Vom Erbe hat sie die Wohnung gekauft, ansonsten hat sie als Arbeiterin in Rente nur sehr wenig Geld.

Doch Giovanna hat eine Geschichte, die sie gerne für sich behalten möchte. Als junge Frau war sie in der militanten Linken tätig, nahm an Gewaltaktionen teil, wurde zur landesweit gesuchten Terroristin, ging in den Untergrund. Eine Schießerei mit der Polizei überlebte sie nur knapp, saß später neun Jahre im Gefängnis. Nach der gescheiterten Ehe mit einem früheren Genossen will sie die Vergangenheit – und mit ihr den Rest der Welt – ein für alle Mal hinter sich lassen, richtet sich in ihrer Einsamkeit ein wie in der viel zu großen und gleichzeitig zu engen Wohnung, pflegt ein inniges Verhältnis allein zu ihren Büchern und Schallplatten.

Bis in die seit Jahren leerstehende Wohnung nebenan eine junge Familie einzieht. Michele ist Musiker, Maria arbeitet bei einer Bekleidungskette. Der 13-jährige Malcolm ist in der Umweltbewegung aktiv, die dreijährige Malvina hat mehr Betreuungsbedarf, als ihre Eltern oder ihr Bruder bieten können. So wird die schweigsame Nachbarin, die sie hinter deren Rücken wegen ihrer langen Haare »Weißmähne« nennen, nach und nach aus ihrer Einsamkeit in das Leben der Familie gezogen. Giovanna kann erstaunlich gut mit Kindern, wird geradezu von ihnen vergöttert, für die Eltern wird sie bald unentbehrlich. Doch als irgendwann auch die echten Großeltern auf den Plan treten, werden die Schatten der Vergangenheit länger und holen Giovanna schließlich ein.

Was zugegeben nach einer etwas vorhersehbaren Versuchsanordnung aussieht, hat Ravera gleichwohl in eine komplexere Erzählstruktur gebettet, die an »Hyperion« von Hölderlin oder »Ulysses« von Joyce erinnert. Giovanna schreibt ihre Geschichte auf, nachdem sie aus einem gemeinsamen Sommerurlaub auf Stromboli mit Malvina und Marias Vater, dem Frauenheld Pietro Saverio, geflüchtet ist und sich in einem billigen Hotel am römischen Stadtrand versteckt. Hier versucht sie, mit tastenden, paradoxen Erzählbewegungen wieder Herrin über ihre eigene Geschichte zu werden: »Ich habe mit dem Schreiben angefangen, um das Schweigen wiederherzustellen«, zu dem sie ihr Leben einst gemacht hatte, weil die Last von Verlust und Schuld zu schwer wiegt, um sie aussprechen zu können.

So ist der Bogen von Giovannas Erzählung immer wieder durchzogen von Abschweifungen, Reflexionen, Selbstbestätigungen und -bezichtigungen. Sie machen den Text sperriger, aber auch tiefer und abgründiger, als es ein glatt durcherzählter Roman wäre. Doch auch als solcher überzeugt Raveras Text, der voll ist von der Weisheit, Empathie und Beobachtungsgabe, aber auch von der Verzweiflung und Selbstverleugnung, die Jahrzehnte eines inneren Exils hervorbringen.

Ravera selbst wurde vor fast einem halben Jahrhundert in Italien zum Literaturstar durch ihren Debütroman »Schweine mit Flügeln«, in dem sie das politische und sexuelle Erwachen der »kleinen Geschwister« der 68er-Generation schilderte. In »Sprich mit mir« seziert sie nun deren fragwürdiges Erbe, zwischen Radikalisierung und Anpassung, in der durchdringenden Entfremdung, mit der Giovanna, die anders als die meisten ihrer Altersgenoss*innen ihren Traum von einer besseren Welt nicht einfach zu begraben bereit war, heute einer zerbröckelnden Wohlstandswelt gegenübersteht.

Und doch bleibt auch »Sprich mit mir« überwiegend auf einer mehr persönlichen statt politischen Ebene. Freilich haben uns die 68er gelehrt, dass auch das Private politisch sein kann – wobei der Rückzug ins Private eher ein Zeichen dafür wäre, dass man den politischen Kampf aufgegeben hat. Lidia Ravera scheint beides in ein Gleichgewicht bringen zu wollen. Ihr Roman bedient sich dazu dramatischer Wendungen und bietet dann gleich mehrere furiose Finali. Er ist ein stilles, kleines Meisterwerk geworden.

Auch in den Altenrepubliken Europas hat das Private eine politische Dimension. So schlägt etwa auch Stefan Schulz zur Bekämpfung von Alterseinsamkeit naheliegende Hilfsmittel wie Wohn- und Verantwortungsgemeinschaften vor – egal ob inter- oder intragenerationell. Gegen Altersarmut – wie gegen Armut allgemein (beides auch Themen bei Ravera) – helfe übrigens ganz einfach Geld. In Deutschland ist es glücklicherweise noch vorhanden, nur leider falsch verteilt. Welche Lösungen auch immer man angehen will, es muss dafür politisch gekämpft werden.

Lidia Ravera: Sprich mit mir. A. d. Ital. v. Annette Kopetzki. Rowohlt, 368 S., geb., 24 €. Als Hörbuch erschienen im Argon-Verlag.

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