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Ein gelehrter Kopf und treuer Gesell

Mit dem Tod des marxistischen Wirtschaftshistorikers Thomas Kuczynski hat die Linke einen großen Verlust erlitten

Passt: 2007 wirkte Thomas Kuczynski am Theaterprojekt »Karl Marx – Das Kapital« mit.
Passt: 2007 wirkte Thomas Kuczynski am Theaterprojekt »Karl Marx – Das Kapital« mit.

Was für ein Charakterkopf! Was für ein beeindruckender Mensch. In seiner Gegenwart fühlte man sich selbst erhoben. Mit ihm zu parlieren war immer ein Genuss. Auch wenn das ihm wesenseigene verschmitzte Lächeln mitunter irritierte. Hatte man sich etwa etwas unbedarft, naiv geäußert? Was den gelehrigen Mann belustigen musste? Aber nein, Thomas Kuczynski nahm jeden, alle und alles ernst. Auch wenn er zuweilen über den Wolken zu schweben, in fernen geistigen Sphären zu wandeln schien, so war er doch bodenständig, ganz und gar von dieser Welt, aufgeschlossen für irdische Probleme, Sorgen, Nöte und auch die vermeintlich banalsten Fragen.

Er machte kein großes Aufheben von seinem grandiosen familiären Hintergrund. Manchmal hatte man gar den Eindruck, es sei ihm eher unangenehm, darauf angesprochen zu werden. Wiewohl er natürlich stolz war. Nicht nur ein großes Erbe, aber eben auch ein verpflichtendes. Ein Gepäck, das er nicht abschütteln wollte und auch nicht konnte. In das andere aber immer wieder neugierig hineinlugten und von Thomas Kuczynski entsprechende Erzählungen und Erläuterungen erwarteten. Das kann nerven. Zumal, wenn man sein eigenes Leben leben will, wie Thomas Kuczynski in einem nd-Interview sagte. Was er auch tat. Er hat eigene wissenschaftliche Meriten aufzuweisen, konnte aus den Schatten des Übervaters und Übergroßvaters treten, blieb nicht »nur« der Sohn oder Enkel einer Berühmtheit – ein Schicksal, zu dem nicht wenige Sprösslinge großer Persönlichkeiten, egal ob aus der Politik, Wissenschaft oder Kultur, zeitlebens verdammt sind.

Und doch kommt man auch hier nicht umhin, wenigstens anzudeuten, wer und was den Lebensweg und die wissenschaftliche Laufbahn des Thomas Kuczynski geprägt hat. Geboren am 12. November 1944 in London, im Exil seiner Eltern Jürgen und Marguerite Kuczynski, beide Wirtschaftswissenschaftler, waren ihm antifaschistische Gesinnung und Haltung faktisch in die Wiege gelegt. Die Mutter hatte in England unter anderem die Bibliothek des Freien Deutschen Kulturbundes gegründet, der Vater – in der Weimarer Republik Wirtschaftsredakteur bei der »Roten Fahne«, Organ der KPD – erstellte Analysen für den US-amerikanischen United States Strategic Bombing Service (woraufhin ihm historische Ignoranten westdeutscher Provenienz Jahrzehnte später vorwarfen, für die Zerstörung deutscher Städte durch angloamerikanische Bomber im letzten Kriegsjahr verantwortlich zu sein).

In der Uniform der US-Army kehrte Jürgen Kuczynski 1945 nach Deutschland zurück, half, Dokumente der deutschen Rüstungsproduktion sicherzustellen, und nahm höchstpersönlich den Chef der I. G. Farben fest, eines Kriegsverbrecherkonzerns, der nicht nur von der Zwangsarbeit, sondern auch vom Gastod von über einer Million Menschen, Mann, Frau, Kind und Greis, in Auschwitz profitiert hatte. Knapp zehn Jahre später trat Jürgen Kuczynski als Sachverständiger des DDR-Nebenklägers Friedrich Karl Kaul im ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main auf, der vom bewundernswert mutigen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiiert worden war.

Der Großvater von Thomas Kuczynski, Robert René Kuczynski, ein hochgeachteter Statistiker und Demoskop, der nie Mitglied der KPD war, sie aber wählte und das Volksbegehren zur Fürstenenteignung in der Weimarer Zeit mitorganisiert hatte, war bereits 1933, drei Jahre vor seinem Sohn, vor den deutschen Antisemiten nach Großbritannien geflohen. Dessen Tochter wiederum, bekannt als Ruth Werner (ihr späteres Pseudonym als Schriftstellerin), und jüngere Schwester von Jürgen Kuczynski hat sich im Zweiten Weltkrieg in den Dienst der sowjetischen Militäraufklärung gestellt, war Mitarbeiterin des Topspions Richard Sorge (»Sonjas Raport«), dann von Leopold Trepper, dem Leiter der westeuropäischen Zentrale der »Roten Kapelle«, und schließlich des »Atom-Spions« Klaus Fuchs.

Thomas Kuczynski wird mir den Ausflug in diese opulente Familiensaga verzeihen. Sie gehört zu ihm wie eine zweite Haut. Und unleugbar er ist in die Fußstapfen seiner »Altvorderen« getreten, führte fort, was fortzuführen ihm geboten schien.

In den 60er Jahren studierte Thomas Kuczynski Statistik an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, promovierte über das Ende der Weltwirtschaftskrise, die 1929 mit dem New Yorker »Black Friday« begonnen und in Deutschland den Machtantritt der Nazis mit begünstigt hatte. Ab 1972 arbeitete er am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, dessen letzter Direktor er 1988 wurde.

Die Abwicklung der DDR-Wissenschaftselite traf auch diesen klugen, kreativen, belesenen und debattierfreudigen Mann. Dass er sich fortan auf dem freien Markt publizistischer Eitelkeiten und Oberflächlichkeiten behaupten musste, wird für ihn eine Zumutung, ein Gräuel gewesen sein. Er nahm tapfer die Herausforderung an. Kapitulation, erst recht vor Kapitalgewaltigen und deren Apologeten, war seine Sache nicht. Nun ja, Bestseller für die ordinären Hitlisten flossen aus seiner Feder nicht. Aber Werke, die bleiben!

Thomas Kuczynski errechnete die »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ›Dritten Reich‹ auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne« (so der von ihm gewählte sperrige, aber wohl akademisch korrekte Titel der Studie), die die Bundesrepublik Deutschland den Opfern schuldig sei: 180,5 Milliarden DM. Womit sich Thomas Kuczynski einmal befasste, das ließ ihn nie gänzlich los. Eine seltene Charaktereigenschaft – selbst und gerade unter heutigen Wissenschaftlern, die flattrig, sich Zeitgeist und Kommerz unterwerfend, rasch und unverfroren von einem Thema zum anderen wechseln. Nicht so Thomas Kuczynski, der noch einmal Zahlenkolonnen zusammenstellte, summierte und dividierte, um sodann in einem Folgeband, »Brosamen vom Herrentisch«, die von den Rechtsnachfolgern des NS-Staates zu entrichtende Summe mit nunmehr 228 Milliarden DM (116 Milliarden Euro) zu beziffern.

Ein anderes Mammutprojekt, das ihm nicht weniger, sondern noch mehr Aufwand und Zeit abverlangte, ihn über zwei Dezennien »fesselte«, war eine voluminöse (Neu-)Edition des ersten Bandes des »Kapitals« von Karl Marx, in dem er einen Wunsch des Verfassers – zu dessen Lebzeiten und auch hernach nie erfüllt – endlich realisierte, nämlich: die deutsche Erstausgabe mit deren französischem Pendant zu vergleichen. Wissensdurstig und unverzagt wie Thomas Kuczynski eben war, beließ er es nicht dabei, sondern bezog auch noch andere Übersetzungen dieses Klassikers marxistischer Ökonomie ein. Dementsprechend sind etliche Buchseiten seiner Edition zu zwei Dritteln von Fußnoten okkupiert. Kein Wunder, dass dieses Werk es nicht auf eine »Spiegel«-Bestsellerliste schaffte.

Apropos: Thomas Kuczynski hat mit seinem ehrgeizigen Unternehmen nicht nur einem Ansinnen von »Old Charly« entsprochen, sondern auch des Direktors des Moskauer Marx-Engels-Instituts und Herausgebers der ersten, unvollständigen, weil auf Stalins Geheiß abgebrochenen, Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA1), David Rjasanow. Der in Odessa geborene Wissenschaftler war 1931 im Zuge der Vorbereitung eines Schauprozesses gegen eine angebliche »Zentrale der Menschewiki« verhaftet, in die Verbannung geschickt und 1938 als »Trotzkist« in Saratow erschossen worden.

Anzumerken sei hier noch, weil dies bezeugt, wie stark Mütter ihre Söhne prägen: Marguerite Kuczynski, Mitarbeiterin am Marx-Engels-Institut in Berlin (IML), hatte eine Neu-Edition des »Elends der Philosophie« des Philosophen aus Trier für die in der DDR erschienenen Marx-Engels-Werke (MEW) bewerkstelligt, in die sie eine von Marx mit umfangreichen Randbemerkungen versehene französische Ausgabe aufnahm, die sie nach Archivrecherchen in Japan entdeckt hatte. Und der Sohn hat natürlich auch am Gedeihen der MEGA2 mitgewirkt, glücklicherweise von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften übernommen.

Der Untergang des »realen Sozialismus« – eine Formulierung von Erich Honecker, wie Thomas Kuczynski stets betonte; er selbst favorisierte eher die Titulierung seines einstigen Zunftkollegen und Freundes Fritz Behrens, Protagonist und Ikone der von Walter Ulbricht erwünschten, aber auf Moskauer Druck hin beendeten Wirtschaftsreformen in der DDR (»Neues Ökonomischen System«) : »Nominalsozialismus« – hat ihn enttäuscht, aber nicht erschüttert. Er erkannte wesentlicher denn als subjektive Fehler ökonomische Ursachen für das Scheitern. Und Thomas Kuczynski war überzeugt, dass dieser Sozialismus, wenngleich zugrunde gegangen, nicht verschwunden ist, sondern vielmehr im Sinne der Hegel’schen Dialektik wieder auflebt.

Ach Mann, dass dieser Mann sich mit erst 78 Jahren verabschiedete ... Am 19. August starb Thomas Kuczynski. Es bleiben nicht nur seine Bücher. Auch die vielfältigen Erinnerungen an seine Vorträge auf und die Gespräche am Rande von Konferenzen der Leibniz-Sozietät. Selbstredend war Thomas Kuczynski Mitglied der Gelehrtengesellschaft der schnöde-arrogant abgewickelten DDR-Wissenschaftsakademie. Oder bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die sein Potenzial indes hätte viel mehr ausbeuten können – und müssen. Wie auch die Linkspartei, die aber offenbar (und das ist kein Geheimnis) Schwierigkeiten mit eigensinnigen Denkern hat (wie auch deren Vorgängerpartei beispielsweise mit Wolfgang Harich).

Thomas Kuczynski war ein wahrhaft »ungläubiger Thomas«, der an allem zweifelte, gemäß des Leitsatzes des französischen Philosophen René Descartes: »De omnibus dubitare.« Das Motto ebenso von Karl Marx, wie er dem Poesiealbum einer seiner Töchter anvertraute. Thomas Kuczynski war jeglicher -ismus suspekt, weshalb er schon zu DDR-Zeiten immer mal wieder aneckte. Er war aber auch frei und freigeistig genug, sich zu revidieren, wenn er eine Meinung oder ein Urteil als vorschnell einsah. Auch das ist eine Gabe, die nicht jedem gegeben ist.

Es bleibt die Erinnerung an das Intermezzo, das Thomas Kuczynki in der nd-Redaktion gab, eingeladen, als Wirtschaftsredakteur das Blatt zu bereichern. Es ging nicht gut aus. Ebenso hätte man Albert Einstein einstellen können. Langes Grübeln und Ringen um die klügsten, ausgewogensten, pointiertesten und zugleich quellenbasierte Formulierungen kann sich eine Tageszeitung unter gnadenlosem Diktat des Redaktionsschlusses nicht leisten. Leider. Ja, auch die redaktionellen Flurbegegnungen mit Thomas Kuczynski bleiben unvergessen. Man meinte zuweilen, einen Wiedergänger zu treffen. Vater Jürgen Kuczynski hatte es sich bis zum Schluss nicht nehmen lassen, seine Manuskripte, Hintergrundartikel, Börsenberichte, Kommentare höchstselbst in die Redaktion zu tragen.

Annette Vogt, die ihrem Mann nicht nur erste Leserin und Lektorin seiner jüngsten Schriften war, sondern ihm als Mathematikerin gewiss auch bei den erwähnten Zahlenkolonnen half und von gleichem freundlichen und aufgeschlossenen Gemüt ist wie er, sei jetzt viel Kraft und Zuversicht gewünscht. Und Geduld, um einen Schatz von Nachlass zu sichten und zu sichern. Wie Thomas Kuczynski es getan hat mit jenem seines Großvaters und seines Vaters. Und: Annette, Du kannst sicher sein, Thomas wird vielen fehlen.

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