»Ich bin Allendist«

Der Sänger Lautaro Valdés über das demokratische Chile, den Putsch und sein Exil

  • Interview: Wolfgang Hübner
  • Lesedauer: 8 Min.
50 Jahre Putsch in Chile – »Ich bin Allendist«

Lautaro Valdés, wie haben Sie den 11. September 1973 erlebt, den Tag des Putsches gegen die Regierung von Salvador Allende?

Ich war in Santiago de Chile, meine Familie wohnte in der Hauptstadt. Kampfflugzeuge des Militärs donnerten über unser Haus hinweg. Wir wussten zuerst nicht, was los ist. Ich habe nur gemerkt, dass viele Leute in der Nachbarschaft aufgeregt und nervös waren, manche haben geweint. Irgendwann erzählten die Leute, dass die Moneda bombardiert wird, der Präsidentenpalast. Wir haben die Bomben und Schüsse nicht gehört, wir wohnten am Stadtrand, aber es sprach sich schnell herum. Auch dass im Stadtzentrum Tote auf den Straßen liegen.

An diesem Tag sprach Präsident Allende noch einmal im Rundfunk.

Ja, er hat die Leute beruhigt, bevor sie ihn ermordet haben. Er wollte nicht, dass bei einem Bürgerkrieg viele Menschen sterben.

Wie erinnern Sie sich an Allende?

Im September 1973 war ich 15. Ich hatte ihn vorher schon einmal reden gehört, auf einer großen Kundgebung, und war sofort fasziniert. Er war ein sehr guter Redner; er hat so gesprochen, dass die einfachen Menschen ihn verstanden haben. Ich war dort mit meinem Vater, der war aktiv in der Kommunistischen Partei. Seitdem bin ich Allendist, ich bin bis heute begeistert von seinen Ideen.

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Allende war kein Kommunist.

Er war ein Linker, ein Sozialist. Die Kommunisten haben ihn unterstützt. Er hat versucht, etwas für die armen Leute zu tun. Das ist leider gescheitert, weil so viel Egoismus in der Gesellschaft herrschte. Sozialismus und Egoismus, das passt nicht zusammen.

Wann wussten Sie und Ihre Familie, dass ein Militärputsch stattgefunden hat, dass die Regierung gestürzt ist und Ihre Welt sich komplett verändert hat?

Das war uns sehr schnell klar, und auch, dass es um Leben und Tod gehen kann. Mein Vater musste sich verstecken, monatelang haben wir ihn nicht gesehen. Sie haben ihn gesucht, auch bei uns zu Hause haben uns Soldaten terrorisiert. Zum Glück haben sie ihn nicht gefunden.

Was war er von Beruf?

Er war Kraftfahrer, Chauffeur, hat auch mal Politiker gefahren. Und er war in einer Bewegung, die den armen Leuten geholfen hat, bei den ganz alltäglichen Dingen. Es gab sehr viel Armut, auf der anderen Seite unerhörten Reichtum. Und die Reichen hatten nicht nur das Geld, sondern auch die wirkliche Macht. Sie waren gegen die Allende-Regierung und gegen jede Sozialpolitik. Dagegen hat mein Vater gekämpft. Sie haben die Allende-Regierung boykottiert, man konnte zuletzt vor dem Putsch kaum noch etwas zu essen kaufen. Aber am Tag nach dem Putsch waren die Läden wieder voll, plötzlich war alles wieder da. So wie die USA Kuba mit einer Blockade boykottieren, so haben sie es auch mit Allendes Chile gemacht, Präsident Nixon und sein Berater Kissinger. Und dann haben sie diesen Putsch organisiert. Allende hat an sein Militär geglaubt, aber sie haben ihn verraten.

Interview

Lautaro Valdés, geboren 1958 in Santiago de Chile, erlebte den Pinochet-Putsch als Jugendlicher und beteiligte sich am Widerstand gegen die Militärdiktatur. 1978 musste er seine Heimat verlassen, seit 1980 lebt er in Berlin. Der Sänger und Musiker organisiert politische und Solidaritätsveranstaltungen und tritt dort auch auf. Er betreibt den Kulturverein El Cultrún, der sich dem kulturellen Austausch zwischen Europa und den indigenen Völkern Lateinamerikas widmet, und mixt bei Veranstaltungen u.a. von Cuba Sí einen vorzüglichen Mojito.
Zum 50. Jahrestag des Putsches in Chile findet am 9. September um 20 Uhr ein Konzert im nd-Gebäude FMP1 am Franz-Mehring-Platz statt. Neben anderen tritt dort auch Lautaro Valdés auf. Es wird um einen Solibeitrag von 15 Euro gebeten.

Zum Zeitpunkt des Putsches waren Sie Schüler. Was hat sich in der Schule verändert?

Der Schuldirektor war ein Linker. Dann gab es da auch Leute, die mit dem Geheimdienst von Pinochet zusammengearbeitet haben. Trotzdem haben wir Schüler zusammen mit Künstlern versucht, etwas gegen die Diktatur zu tun. Auch Lehrer waren dabei. Wir haben Lieder gegen die Putschisten gesungen.

Hatten Sie keine Angst?

Nein, weil ich an ein besseres Leben geglaubt habe. Es war unsere Art, gegen die Diktatur zu kämpfen. Für ein besseres Leben zu sein, hat ja schon genügt, um als Kommunist oder Sozialist zu gelten.

Was hat Ihre Familie über den Putsch gedacht?

Bei uns wurde viel geredet über Politik. Für uns war Allende die Hoffnung, das war dann mit einem Schlag vorbei. Irgendwann nach langer Zeit, als die größte Gefahr vorbei war, war mein Vater wieder da. Es war nicht mehr unbedingt lebensgefährlich, aber immer noch gefährlich, Flugblätter zu verteilen, illegale Versammlungen zu besuchen oder mit anderen Genossen Aktionen zu planen. Für mich war das aufregend, und die Energie meines Vaters hat mich ermutigt.

Als Allende 1970 zum Präsidenten gewählt wurde, waren Sie zwölf. Woran erinnern Sie sich?

Ich wusste nur: Die Regierung davor war für die reichen Leute da. Und dann kam Allende. Unter anderem gab es für jedes Kind jeden Tag einen halben Liter Milch kostenlos, das gehörte zu seinem Programm, und auch Kinder aus armen Familien bekamen ein warmes Mittagessen. Das Leben für die einfachen Leute hat sich verbessert; für viele nur ein bisschen, aber es hat sich verbessert. Viele Leute haben anderen solidarisch geholfen, das war der Anfang einer guten Generation, aber viele von ihnen wurden nach dem Putsch leider getötet.

Sie haben damals schon Gitarre gespielt und gesungen. Wie hat das angefangen?

Meine Tante hat mir meine erste Gitarre geschenkt, da war ich elf. Meine Eltern hatten kein Geld dafür. Es war keine gute Gitarre, aber für mich war sie die beste. Ich habe mir alles darauf selber beigebracht, habe die Lieder von den berühmten Gruppen geübt, Inti-Illimani und Quilapayún. Auch die wunderbaren Lieder von Violetta Parra und Víctor Jara. Wie brutal sie Víctor Jara ermordet haben, das war das Gesicht des Faschismus.

Das sind alle sehr politische Künstler.

Zu der Zeit haben sich etliche Musiker und Gruppen politisch geäußert. Dazu gehören Tempo Nuevo und Illapu. Auch ich selber singe nicht nur, um zu singen. Ich will die Leute mit meiner politischen Haltung zum Nachdenken bringen.

Sie waren noch lange nach dem Putsch in Chile, sind auch aufgetreten. Unter welchen Umständen war das möglich?

Die Polizei konnte nicht überall sein. Viele Künstler sind erst mal nicht emigriert, sondern in Chile geblieben. Wir haben Konzerte gemacht gegen die Diktatur, das ging nach einer Weile wieder. Auch wenn immer wieder Leute verhaftet wurden und verschwunden sind. Einmal haben mich Genossen als solidarischsten Künstler ausgezeichnet, da bekam ich eine Armbanduhr aus der DDR. Ich bin oft in Santiago aufgetreten. Einmal habe ich auf einem Gedenkkonzert für Pablo Neruda gesungen, der kurz nach dem Putsch gestorben war. Seine Frau Matilde hatte einen Hut von ihm mitgebracht und auf einen Stuhl gelegt. Den Hut habe ich aufgesetzt und für sie ein Lied nach einem Gedicht von ihm gesungen.

1978 haben Sie dann doch das Land verlassen.

Es ging nicht mehr anders. Nach einem großen Konzert wurde ich verhaftet. Da waren viele Polizisten. Wir mussten zwischen ihnen durchgehen, sie haben uns geschlagen und mitgenommen. Ich war da eine Woche, sie haben uns verprügelt und misshandelt. Da habe ich erlebt, wie dumm die Menschen werden, wenn sie Macht über andere haben. Die Kirche hat mich da rausgeholt. Die Rechten haben mir dann angeboten, für sie zu singen, für viel Geld. Das habe ich abgelehnt. Und dann haben mir Genossen aus einer kleinen linken Partei vorgeschlagen, ins Ausland zu gehen, nach Moskau. Meinen Vater habe ich bis zu seinem Tod nie wiedergesehen, er hat mir sehr gefehlt. Ich habe auch nie wieder mit ihm gesprochen, weil wir aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt haben sollten. In Moskau habe ich zwei Jahre an der Komsomol-Schule Politik studiert. Das war eine schöne Erfahrung, mit Kommilitonen aus vielen Ländern. Danach wurde mir von dieser linken chilenischen Partei angeboten, in die BRD oder in die DDR zu gehen. Ich habe mich für die DDR entschieden.

Warum?

DDR, das war Sozialismus, darauf war ich neugierig. Den Kapitalismus kannte ich schon. Als ich dann da war, habe ich die DDR geliebt. Hier gab es so vieles, was ich in Chile nicht kannte. Zum Beispiel das Gesundheitswesen. In meiner Heimat, als ich neun Monate alt war, habe ich Kinderlähmung gekriegt. Ich konnte fast nicht laufen. In Chile bist du da verloren, wenn du kein Geld hast. In der DDR bin ich operiert worden, ich hatte eine Wohnung, bekam an einer Musikschule Gesangsunterricht. Den Abschluss habe ich mit einer Eins gemacht. Das war gut für mich und dafür bin ich dankbar.

Was denken Sie über die Wende 1989/90 und die deutsche Vereinigung?

In der DDR ist nicht alles so gelaufen, wie es sein sollte. Aber für mich als Chilenen war es das Beste in meinem Leben. Die Kinder konnten ohne Bezahlung in die Schule gehen. Die Leute konnten ohne Bezahlung zum Doktor gehen. Und vieles andere mehr. Das Soziale war in der DDR tausendmal besser als in Chile. Nicht hundertmal, sondern tausendmal. Und deshalb werde ich nie schlecht über die DDR sprechen.

Würden Sie gern nach Chile zurückgehen?

Ich weiß nicht genau, wohin ich gehöre. Die alte Heimat trage ich im Herzen, aber ich bin schon so lange in Berlin, hier habe ich meine Familie, Freunde und Bekannte. Chile hat sich verändert, das letzte Mal war ich dort vor zehn Jahren. Viele alte Freunde sind nicht mehr da.

Was für Spuren hat die Pinochet-Diktatur in Chile hinterlassen?

Es gilt immer noch die Verfassung aus seiner Zeit. Aber das interessiert viele junge Leute nicht, die Handygeneration. Vor ein paar Jahren gab es die Studentenproteste, aber das ist nicht die Mehrheit. Die Mehrheit wird vom Fernsehen verblödet und interessiert sich nur für das Materielle. Inzwischen wurden einige Diktatur-Generäle und Folterer verurteilt, aber sie leben in speziellen Gefängnissen wie Könige. Man muss auch daran erinnern, dass die USA die Allende-Regierung kaputtgemacht haben. Weil sie keinen Sozialismus in Lateinamerika wollten. Und das ist bis heute so. Ich kann den USA-Regierungen nicht verzeihen, was sie in Chile und anderswo angerichtet haben.

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