»Faschisierung, aber kein Faschismus«

Taniev* von der Arbeiterfront der Ukraine über Soldatenrechte, Gewerkschaftsarbeit und die Unmöglichkeit von Frieden im Kapitalismus.

  • Interview: Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 8 Min.
DIe RFU ist in Deutschland gut vernetzt und beteiligt sich auch hierzulande an Aktionen.
DIe RFU ist in Deutschland gut vernetzt und beteiligt sich auch hierzulande an Aktionen.

Taniev, Sie sind Mitglied der Arbeiterfront der Ukraine (RFU). Was ist das für eine Organisation?

Wir verfolgen eine marxistisch-leninistische Linie, wir wollen Revolution und Sozialismus. Wir veröffentlichen nicht nur linke Thesen, sondern helfen mit unserer Rechtsabteilung bei Fragen zum Arbeits- und Soldatenrecht. Wir arbeiten mit Juristen und Studenten und sind ständig dabei, Weiterbildungskurse anzubieten, um besser Hilfe leisten zu können. Als Organisation haben wir uns 2019 gegründet. Die Rechtsberatung für Soldaten gibt es erst seit Kriegsbeginn. Für uns ist in erster Linie relevant, die Rechte und Interessen der Mehrheit des ukrainischen Volkes zu vertreten. Das sind die Leute, die arbeiten. Zu Anfang des Krieges hatten wir auf Telegram um die 2000 Leser, jetzt sind es 7000.

Die Arbeiterfront kooperiert auch mit Organisationen in Deutschland. Warum?

Wir vernetzen uns mit deutschen Organisationen, weil es viele Ukrainer in Deutschland gibt, mit denen wir arbeiten wollen. Wir wollen zeigen, dass nicht alle 40 Millionen Ukrainer und auch die eine Million, die in Deutschland lebt, für den Krieg sind. Es gibt andere Positionen, die insbesondere für die Menschen relevant sind, die in den Frontgebieten leben. Wir waren bei Rheinmetall entwaffnen zu einer Diskussion in Berlin eingeladen und sind mit lokalen Gruppen auf Demos gegangen. Im Westen kommen vor allem Stimmen zu Wort, die den Krieg fortführen wollen. Es gibt eine gewisse Nachfrage nach Sozialchauvinisten aus der Ukraine. Kritisch beobachten wir in diesem Kontext die Arbeit von Linken, die Waffenlieferungen legitimieren.

Wie ist es, Marxist in der Ukraine zu sein?

Man muss sich verstecken, denn Kommunismus und alles, was damit verbunden ist, ist verboten. Selbst Ansichten, die nicht verboten sind, die du aber öffentlich äußerst, können deinen Namen und deine Karriere ruinieren. Deswegen arbeiten wir im Untergrund. Das ist wichtig, um alles sagen zu können, was wir sagen wollen. Wir haben eine eigene Website, sind auf Telegram, Tiktok, Instagram und Youtube. Diese Online-Medien benutzen wir für die Agitation der Menschen. Und eben dort bewerben wir auch, dass Menschen, die Arbeitsrechtsprobleme haben, uns anschreiben können. Dann können wir sie unterstützen.

Auf welche Weise unterstützt Ihre Organisation ukrainische Soldaten?

Soldaten stehen viele Rechte zu, zum Beispiel wenn sie verwundet werden oder krank sind. Die Regierung leistet diese Verpflichtungen aber nicht in jedem Fall. Dann verfassen wir ein Schreiben für die Leute, damit die Rechte, die ihnen zustehen, auch verwirklicht werden. Häufiges Thema sind finanzielle Gegenleistungen seitens der Regierung. Es wird öfters versucht, nicht die Besoldungsgruppe zu zahlen, in der jemand wirklich ist. Wenn man an der Front ist, bekommt man deutlich mehr als im Hinterland. Dann schummelt der Staat, indem er einen Soldaten nicht schon ab dem 1. Oktober als Frontsoldaten zählt, sondern erst ab dem 15. Oktober, obwohl er seit Anfang des Monats eingesetzt wird. Der Soldat riskiert die zwei Wochen trotzdem sein Leben, wird dafür aber nicht angemessen vergütet. Bei solchen Fragen helfen wir und benutzen diese Möglichkeit auch zur Agitation der Soldaten. Die verteidigen den Staat, riskieren ihr Leben, aber werden ja irgendwie veräppelt.

Die ukrainische Regierung will, dass Deutschland Deserteure ausliefert. Haben Sie Fälle von Menschen, die grundsätzlich nicht kämpfen wollen?

Ja, natürlich. Es wollen nur sehr wenige kämpfen, denn der Krieg ist sehr konkret. Allerdings herrscht in der Ukraine Wehrpflicht und die Musterungsprozedur ist vor zwei Monaten aufgeweicht worden. Mittlerweile muss jemand schwerbehindert sein, um nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden zu können. Auch als Jurist kannst du da wenig machen. In so einer Situation ist das Beste, was man raten kann, sich zu verstecken. Sobald man diesen Schein bekommen hat, kommt man kaum noch raus.

Wie nehmen Sie den Kampfwillen in der ukrainischen Bevölkerung wahr?

Eigentlich müsste man eine unabhängige Umfrage machen. Macht aber keiner und dann beginnt man irgendetwas auf Gefühlsebene einzuschätzen. Der Kampfwille wird sich, abhängig davon, von welcher Stadt wir reden, sehr stark unterscheiden. Je näher man an die Front kommt, desto weniger Kampfwillen wird man finden. Denn je näher man an die Front kommt, desto öfter wird man bombardiert und desto stärker will man, dass der Krieg zu einem Ende kommt. Wenn man in Kiew sitzt, das weniger stark bombardiert wird und die beste Raketenabwehr hat, ist es einfacher zu sagen: Ja, lass mal weiterkämpfen, weil Patriotismus. Ich denke, die Kampfbereitschaft endet für viele, sobald sie selbst an die Front sollen.

Wie steht es um die Gewerkschaften?

Man darf nicht mehr streiken. Demos sind verboten, der Krankenschutz ist ausgesetzt. Für Gewerkschaften ist das Streiken aber das letzte und stärkste Mittel. Egal wie groß und unabhängig du bist, du kannst nicht mehr mit einem Streik drohen. Der Arbeitgeber kann jetzt ohne Mitspracherecht der Gewerkschaften Wochenendarbeit einführen. Früher musste man bei einer Nachtschicht nur sieben Stunden arbeiten und bekam den Lohn für acht. Jetzt muss man die volle Zeit arbeiten. Bei diesen Fragen kann man die Arbeiter nicht verteidigen, weil sie diese Rechte schlicht nicht mehr haben. Weil die Arbeiter nach dem ersten Krankheitstag schon gekündigt werden können, gibt es nicht einmal die Möglichkeit, eine passive Art des Streiks zu praktizieren. Die gewerkschaftliche Arbeit ist komplett lahmgelegt.

Ist der ukrainische Staat mächtig genug, um starke Repressionen auszuüben?

Auf jeden Fall. Infolge des Krieges hat der Staat enorme Macht akkumuliert. In der Ukraine finden politische Säuberungen statt. Der berühmteste Fall sind die Kononowitsch-Brüder, die in der Ukraine als Kommunisten unter Repression leiden. Die ganze kommunistische Partei der Ukraine ist verboten, manche Menschen wurden sogar getötet. Der ukrainische Staat ist sehr effektiv mit seinen Repression. Selbst die bourgeoise Opposition ist mittlerweile komplett verboten. Es hatte mit der Verfolgung prorussischer Organisationen angefangen, mittlerweile aber gilt fast jeder, der nicht für Präsident Selenskyj ist, als prorussisch und wird verfolgt.

Verglichen mit dem repressiven System Russlands, ist es da nicht besser, eine schlechte Demokratie wie die Ukraine zu verteidigen, um anschließend auf dieser Basis zu arbeiten?

Wenn wir jetzt versuchen rauszufinden, wer progressiver ist, die Ukraine oder Russland, dann landen wir bei der Problematik der Zweiten Internationale: »Lass mal unseren Bourgeois unterstützen, nachdem unser Bourgeois gewonnen hat, können wir was aufbauen.« Das ist genau der Konflikt zwischen Lenin und der Zweiten Internationale. Wir stehen in dieser Frage auf der Seite von Lenin. Beide Staaten sind kapitalistisch.

Wie viel Wahrheit liegt in der Behauptung der russischen Regierung, sie würde in der Ukraine den Faschismus bekämpfen?

Wir als RFU sehen natürlich die negativen Entwicklungen in der Ukraine, aber sie rechtfertigen in keinem Fall einen Invasionskrieg. In der Ukraine gibt es eine Faschisierung, aber eben keinen Faschismus. Das Gleiche sehen wir auch in Russland und vielen anderen europäischen Ländern. Allein die Tatsache, dass der Staat repressiver geworden ist oder nationalistische Gedanken sich im Alltag immer weiter ausbreiten, machen das Land noch nicht zum faschistischen Land. Es ist ein Weg dahin, aber die Regierung nutzt, obwohl es viele Nationalisten gibt, die das tragen würden, ihr Unterdrückungspotenzial nicht vollends aus.

Welche Perspektiven für das Ende des Krieges sehen Sie?

Friedensverhandlungen sind ein Weg. Doch auch mit solchen Verhandlungen wird es keinen langfristigen Frieden geben, denn die nationalistischen Gefühle und der Hass nach außen würden bleiben. Es würde ständig Grenzkonflikte geben, die dann zum nächsten Krieg führen würden. Menschenopfer müssen jetzt gestoppt werden, aber bei unserer Arbeit für den Frieden behalten wir im Hinterkopf, dass sich im Kapitalismus Kriege wiederholen werden – und zwar immer stärker.

Die Ukraine wird angegriffen und verteidigt sich. Kann man jemandem, der sich verteidigt, sagen: Hör auf zu kämpfen?

Wessen Interessen werden denn verteidigt? Man spielt hier die Karte, dass die Integrität der Grenzen im Interesse eines normalen Bürgers der Ukraine wäre. Aber was bekommt der durchschnittliche Bürger der Ukraine davon, ob die Grenze hundert Kilometer östlicher oder westlicher liegt? Für ihn gibt es davon nichts, weil das Land und die Ressourcen, die sich dort befinden, den Oligarchen gehören. Deren Interessen stehen in Gefahr, nicht die Interessen des Proletariers, der sich kaum noch das Essen leisten kann. Er wird in den Tod geschickt, um die Interessen der 0,1 Prozent zu verteidigen. Das gilt auch für die Russen. Was haben die denn davon gewonnen, wenn ein russischer Oligarch im Donbass Kohle, Gas oder Öl ausbeuten darf? Dadurch lebt der russische Arbeiter nicht besser. Das Größte, was er davon bekommt, ist ein kurzfristiger Dopaminschuss, wenn er auf der Karte feststellt, wie groß sein Land ist.

Was antworten Sie Linken, die Waffenlieferungen befürworten?

Dass sie die Waffen an die RFU liefern sollten (lacht). Waffenlieferungen an einen kapitalistischen Staat führen nur zu weiterem Krieg. Hier werden keine nationalen Interessen verteidigt, sondern die Interessen des nationalen Kapitals – das ist ein großer Unterschied. Man verteidigt damit nicht die Menschen, die in der Ukraine leben, sondern das Kapital. Wer Waffenlieferungen befürwortet, macht sich mitschuldig an den Toten auf beiden Seiten.

Aus Angst vor Repressionen durch den ukrainischen Staat verwendet der Interviewte ein Pseudonym. Der richtige Name ist dem Interviewer bekannt.

Interview

Die 2019 gegründete Arbeiterfront der Ukraine (RFU) versteht sich als Organisation ukrainischer Marxisten. Die RFU will marxistische Ideen verbreiten und Kader für eine zukünftige Arbeiterpartei ausbilden. In sozialen Medien und in Arbeitskreisen klärt sie nach Eigenaussage über soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit auf. Seit der russischen Invasion kümmert sich die RFU auch um die Rechte der Soldaten, die an der Front kämpfen.

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