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Film »Das fliegende Klassenzimmer«: Es lebe der Neoliberalismus
Regelmäßig gibt es eine Neuverfilmung von Kästners Klassiker »Das fliegende Klassenzimmer«. Was sagt der Film über unsere Gegenwart?
Richtig schätzen und lieben gelernt hat der Autor dieser Zeilen Erich Kästner erst, nachdem er Vater geworden war, seinen Kindern die zweibändige Ausgabe »Kästner für Kinder« gekauft und ihnen über die Jahre die meisten der darin enthaltenen Erzählungen vorgelesen hat. Von »Pünktchen und Anton« und »Emil und die Detektive« über die »Konferenz der Tiere« und »Der kleine Mann« bis hin zu ebenjenem »Fliegenden Klassenzimmer«.
Kästners Geschichten gemein ist ihr intelligenter Witz und augenzwinkernder Humor, spannend sind sie sowieso. Dazu kommen der tiefe Humanismus und die Menschenliebe des Autors, der den Kindern in seinen Erzählungen auf Augenhöhe und mit einer Wärme begegnet, die einen beim (Vor-)Lesen umfängt und berührt. Nicht zu vergessen Kästners soziales Gewissen, mit dem er Ungerechtigkeit und Ausbeutung anprangerte und die Klassengegensätze der Weimarer Republik kindgerecht thematisierte.
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Das natürliche Gerechtigkeitsempfinden eines jeden Kindes dürfte sich empören, wenn Martin Thaler, einer der Helden aus dem »Fliegenden Klassenzimmer«, den Weihnachtsabend im Internat verbringen muss, weil die Eltern das Geld für die Heimfahrt nicht aufbringen können, und Martin fortan tapfer gegen seine Tränen ankämpft. Zum Glück gibt es den Lehrer Johann »Justus« Bökh, der in seiner Liebe zu den Kindern und seinem starken Sinn für Gerechtigkeit und Fairness ein Wunsch-Alter-Ego des Autors gewesen sein dürfte.
An dieser Stelle einen Überblick über die Handlung zu geben, wäre eine Geringschätzung der Leser, denn vermutlich kennt so gut wie jeder die Geschichte der Internatsklasse im kleinen Ort Kirchberg mit dem Konflikt zwischen Internen und Externen, vom »Nichtraucher« und Justus, den verlorenen und sich wiederfindenden alten Freunden sowie der Schulaufführung des Theaterstücks »Das fliegende Klassenzimmer« als Höhepunkt der gymnasialen Weihnachtsfeier.
Jede filmische Umsetzung dieses Kinderbuch-Klassikers muss sich am hohen ethischen Anspruch der Vorlage messen lassen. Hinzu kommt, dass es bereits einige Verfilmungen gibt, die das Buch entsprechend dem jeweiligen Zeitgeist weitgehend frei interpretierten. So ungefähr alle 20 Jahre scheint es Zeit für eine Neuauflage, die letzte stammt von 2003. Welchen zeitgenössischen Ansatz die aktuelle Verfilmung des zeitlosen Stoffes verfolgt, wird schnell klar. Eine reine Jungsklasse wie im Original wäre den heutigen jugendlichen Zuschauern wohl kaum zu vermitteln, und so sind nicht nur die Schulklassen durchmischt, sondern auch die Hauptfiguren in wesentlichen Teilen Mädchen, womit dem Zeitgeist mehr als Genüge getan ist.
Die Handlung wurde vom Autor Gerrit Hermans in die Gegenwart verlegt, in der die 13-jährige Martina in einer Berliner Hochhaussiedlung wohnt. Die Familie, mit Jördis Triebel als Mutter, lebt, wie sich ein arrivierter Autor das Leben im Prekariat so vorstellt: arm, aber herzensgut. Das vom kleinen Bruder erträumte Reiseziel Puerto Rico ist nur mit dem Finger im Atlas erreichbar, selbst der Urlaub auf Rügen steht in den Sternen. Warum die Familie eigentlich arm ist, obwohl die Mutter als Krankenschwester in Vollzeit schuftet, wird nicht hinterfragt. Aber egal, der soziale Aufstieg durch Bildung winkt; Martina erhält die Chance auf ein Stipendium für das begehrte Internatsgymnasium in Südtirol.
Dass Martina sich laut Drehbuch das Stipendium erst durch exzellente Leistungen und eine Aufnahmeprüfung verdienen muss, ist wohl ebenfalls dem (neoliberalen) Zeitgeist geschuldet. Kaum angekommen, gerät sie allerdings sogleich in die Auseinandersetzungen zwischen Internen und Externen, die sich spinnefeind sind. Wegen des zeitraubenden Konflikts sind ihr Lernerfolg und damit das Stipendium gefährdet, was am Ende aber mit vereinten Kräften verhindert wird. Die Mär vom Aufstieg durch Leistung kann weitergehen.
Das sehr zeitgemäße Bedürfnis, es allen recht zu machen und niemandem wehzutun, macht »Das fliegende Klassenzimmer« von 2023 in der Regie von Carolina Hellsgård zu einem Film ohne Ecken und Kanten, der gefällig daherkommt und wenig Spannung erzeugt. Das Spiel der Darsteller wirkt glatt und routiniert, die Konflikte behauptet und zum Teil wenig plausibel. Auch das Zerwürfnis nebst späterer Versöhnung zwischen Justus (Tom Schilling) und dem »Nichtraucher« (Trystan Pütter) bleibt blass und wenig nachvollziehbar.
Eine konventionelle Dramaturgie wie aus dem Drehbuchseminar mag ein Zugeständnis sein, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen, doch wirkliche Erregung will sich nicht einstellen. Sicher, die Kinder werden sich im Kino kaum langweilen, aber ob die etwas bemühte Neuinterpretation des Klassikers das Zeug hat, sie innerlich zu berühren, darf bezweifelt werden. Die Schauspieler geben ihr Bestes, vermögen es jedoch nicht, wahre Anteilnahme zu erzeugen. Das liegt mitnichten an ihnen; warum zum Beispiel Hannah Herzsprung als Frau Kreuzkamm eine leicht dämliche Knallcharge mit ständig rutschender Riesenbrille verkörpern muss, bleibt das Geheimnis des Autors. Selbst ein Routinier wie Tom Schilling als Lehrer Bökh schafft es nicht, durch die Hochglanzoberfläche des Films zu dringen und die Herzenswärme des Romanvorbilds zu vermitteln.
Während der Rezensent noch darüber nachdenkt, ob er die Messlatte nicht zu hoch hängt – schließlich geht es ja um einen Kinderfilm, der einen anderen Zugang erfordert als ein Arthouse-Film für Erwachsene –, schaut er sich zum Abgleich die ältere Verfilmung von 2003 an (in voller Länge auf Youtube zu sehen). Und ist auf Anhieb begeistert! Auch dieser Film entfernt sich sehr weit von der Vorlage, etabliert als Ort der Handlung die Leipziger Thomasschule mit ihrem berühmten Thomaner-Chor und gibt der Geschichte eine gänzlich andere Struktur.
Im Gegensatz zur blutleeren und aseptischen Version von 2023 atmet dieser Film den Geist Kästners, ist ungemein spannend und aufregend und überzeugt durch seine Aufrichtigkeit und lebensnahe Darstellung. Die Hauptrollen spielten damals Ulrich Noethen, Sebastian Koch, Piet Klocke als verschrobener Lehrer Kreuzkamm und der noch sehr junge Frederik Lau. Vielleicht wirkt diese Version so sehr viel authentischer, weil sie im damals noch unfertigen und wenig sanierten, rauen und schroffen deutschen Osten spielte. Weit entfernt von der langweiligen Saturiertheit der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft spricht aus diesem Film eine Wahrhaftigkeit und Empathie, die in der auf Marktgängigkeit getrimmten 2023er Version weitgehend verloren gegangen ist.
»Das fliegende Klassenzimmer«, Deutschland 2023. Regie: Carolina Hellsgård. Mit: Tom Schilling, Hannah Herzsprung, Trystan Pütter. 86 Min. Start: 12.10.
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