Allgemeine freudige Erregung

Vor 100 Jahren: Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen. Als KPD und SPD sich zusammenrauften

  • Mario Hesselbarth
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Sozialdemokrat Erich Zeigner, für einige Monate Ministerpräsident des Freistaats Sachsen
Der Sozialdemokrat Erich Zeigner, für einige Monate Ministerpräsident des Freistaats Sachsen

Man schreibt den 14. Oktober 1923: Die Delegierten des als links geltenden sozialdemokratischen Unterbezirksverbands Gera/Greiz kommen zu einer Unterbezirkskonferenz zusammen. Das Referat zur angespannten innenpolitischen Lage hält Otto Jenssen, Lehrer an der sozialistischen Heimvolkshochschule Gera-Tinz. Seine Bilanz bezüglich der bisherigen Beteiligung seiner Partei an der Großen Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann fällt dramatisch aus: Die Arbeiterschaft habe den Glauben an die Partei und ihre Kraft verloren. Es sei notwendig, die Massen wieder aktiv zu machen, aber sie müssten wissen, worum es gehe. In dem vom Deutschen Reichstag in Berlin am Tag zuvor beschlossenen Ermächtigungsgesetz, das gravierende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen für die Arbeiterschaft bedeutete, einerseits und der Bildung der sozialdemokratisch-kommunistischen Regierung in Sachsen am 12. Oktober sowie einer anstehenden in Thüringen, die am 16. Oktober zustande kommen sollte, andererseits, sieht Jenssen zwei zutiefst unterschiedliche Möglichkeiten sozialdemokratischer Politik im Herbst 1923.

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Tatsächlich schien zumindest in Thüringen die Bildung der Arbeiterregierung angesichts der durch die Hyperinflation hervorgerufenen sozialen Notsituation großer Teile der Bevölkerung und der insbesondere aus Bayern akut drohenden faschistischen Gefahr jene massenmobilisierende Antwort zu sein, die Jenssen in seinem Referat gefordert hatte. Die von den Bezirksleitungen beider Arbeiterparteien landesweit gemeinsam durchgeführten Versammlungen am 20. und 21. Oktober 1923 in Sachsen und Thüringen erwiesen sich als beeindruckende Vertrauenskundgebungen für die jeweilige neue Landesregierung. »Es ist nicht zu leugnen«, kommentierte das Jenaer sozialdemokratische Parteiblatt, »dass sich der gesamten Arbeiterschaft eine allgemeine freudige Erregung bemächtigte. Wenn wir auch keine übertriebenen Hoffnungen auf dieses Ereignis setzen und etwa glauben, dass nunmehr alles in Butter schwimmen, dass nunmehr das goldene Zeitalter hereinbrechen würde oder auch der hässliche Bruderkampf nun mit einem Male verstummte, so glauben wir doch, dass es nicht ohne Einfluss auf das gegenseitige Verhältnis der Arbeiterparteien bleiben kann.«

Die mit der Bildung der beiden Arbeiterregierungen verbundenen links-sozialdemokratischen Hoffnungen auf eine kommunistische Politik, die an die Stelle weltrevolutionärer Wunschträume ein realitätsbezogenes Agieren im Interesse der arbeitenden Bevölkerung setzen und damit trotz grundsätzlicher Unterschiede ein gemeinsames Handeln ermöglichen würde, besaß durchaus eine reale Basis. Die nach dem Scheitern der KPD-Märzaktion 1921 durch den III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (KI) und dem Jenaer KPD-Parteitag eingeleitete kommunistische Einheitsfrontpolitik hatte sowohl außerparlamentarisch – Stichwort: gemeinsame Massendemonstrationen als Reaktion auf die Ermordung des Reichsaußenministers Walter Rathenau durch die faschistische Geheimorganisation Konsul 1922 – als auch parlamentarisch in Sachsen und Thüringen zumindest partiell eine, wenn auch schwierige, Zusammenarbeit ermöglicht.

Ohne Zweifel zielte auch die kommunistische Einheitsfrontpolitik im Kern darauf, den sozialdemokratischen Einfluss auf die Arbeiterschaft letztlich auszuschalten, um damit die Voraussetzung für einen erneuten revolutionären Versuch zu schaffen. Da dies jedoch praktisch nur durch die Vertretung der unmittelbaren Interessen der arbeitenden Bevölkerung erfolgen konnte, musste dies auch unmittelbare Rückwirkungen auf die KPD selbst haben. Ausdruck hierfür war unter anderem der Beschluss des Leipziger KPD-Parteitags im Januar 1923, der die angestrebte Arbeiterregierung weder als »Diktatur des Proletariats« noch als friedlichen parlamentarischen Weg zu diesem Ziel definierte. Die Arbeiterregierung sollte vielmehr ein Versuch der Arbeiterklasse sein, »im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben«.

Während die Parteizentrale um Heinrich Brandler die Mehrheitsentscheidung des Leipziger Parteitages insbesondere mit der aktiven Tolerierung der im März 1923 gebildeten linkssozialdemokratischen Regierung unter Ministerpräsident Erich Zeigner in Sachsen umzusetzen versuchte, gelang es dem ultralinken Parteiflügel der KPD um Ruth Fischer die Einheitsfrontpolitik zunehmend zu unterlaufen. Wenngleich diese radikale kommunistische Opposition durchaus eine relevante Parteiminderheit verkörperte, basierte ihr zunehmender Einfluss auf der Unterstützung durch die Führung der Komintern. Sie drängte die KPD unter dem Eindruck der sich dramatisch zuspitzenden innenpolitischen Situation in Deutschland, die ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Generalstreik gegen die Regierung unter dem parteilosen, konservativen Wilhelm Cuno und deren Sturz Mitte August 1923 erreicht hatte, zum bewaffneten Aufstand. Der sogenannte Deutsche Oktober wurden mit maßgebender sowjetischer Unterstützung in Angriff genommen. Der vom Vorsitzenden des Exekutivkomitees der KI Anfang Oktober 1923 faktisch angeordnete Eintritt der KPD in die Landesregierungen in Sachsen und Thüringen war also in realitas nicht der von der Sozialdemokratie erhoffte Durchbruch zu einer realitätsbezogenen kommunistischen Politik, sondern Bestandteil der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands.

Dieser grundlegende Widerspruch in den Erwartungshaltungen an die Arbeiterregierungen musste zu deren schnellem Scheitern führen. Für August Frölich, den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Thüringer Arbeiterregierung, stand Anfang November 1923 fest, dass der Versuch eines gemeinsamen Regierungshandelns mit der KPD, den er auch rückblickend gegen entsprechende Kritik ausdrücklich verteidigte, gescheitert war. In Sachsen habe die Reichsexekution, der Einmarsch der Reichswehr, die KPD davor bewahrt, dass die Unmöglichkeit einer Zusammenarbeit mit ihr offenbar geworden sei, so Frölich. Für Thüringen hatte er den Entschluss gefasst, das Bündnis wieder aufzukündigen, da er nicht bereit war, die aus seiner Sicht offenkundig abenteuerliche Politik der KPD mitzumachen, wie sie sich in jenen Tagen im Hamburger Aufstand zeigte. »Wir hatten den ehrlichen Willen, zusammen mit den Kommunisten zu arbeiten. Diese hatten erklärt, dass sie auf dem Boden der republikanischen Verfassung stehen. Als ich sah, dass die Dinge so nicht gingen, dass die Regierung diskreditiert werden sollte, habe ich von mir aus erklärt, so etwas mache ich nicht mit, – ohne dass ich aber die Reichswehr gebraucht hätte.«

Tatsächlich hatte die KPD mit ihrem auf den bewaffneten Aufstand zielenden Agieren der Reaktion die Vorwände für ihr gewaltsames Vorgehen zur Beseitigung der Arbeiterregierungen geliefert. Ursächlich für die Reichsexekutionen gegen Sachsen und Thüringen waren jedoch andere Motive. Nicht erst mit dem Eintritt der KPD in beide Landesregierungen war von bürgerlich-reaktionärer Seite immer wieder der Einsatz der Reichsgewalt gegen die beiden sozialdemokratisch regierten Länder gefordert worden. Hatte Erich Zeigner mit seiner Kritik an der Reichswehr entsprechende Reaktionen hervorgerufen, zog die Thüringer Landesregierung nicht zuletzt mit ihrem Vorgehen gegen die extreme Rechte, so am 9. September 1923 gegen den »Deutschen Tag« in Gotha, den Unmut der Reaktion auf sich. Zugleich hoffte die Reichsregierung unter Gustav Stresemann (DVP), durch die Beseitigung der Zeigner-Regierung in Dresden die Reichswehr davon abhalten zu können, an die Seite der bayerischen Putschisten zu treten. Vor allem aber ging es um definitive Ausgrenzung der KPD aus dem parlamentarischen System und die Ausschaltung des linksrepublikanischen Politikversuchs in Sachsen und Thüringen – mit weitreichenden Konsequenzen für die Weimarer Republik.

Die Reichsexekution 1923 lieferte das Vorbild für den sogenannten Preußenschlag im Juli 1932, die Absetzung der sozialdemokratischen Regierung unter Otto Braun, mit der das letzte republikanische Bollwerk gegen den deutschen Faschismus beseitigt wurde. Thüringen avancierte nach der Landtagswahl am 10. Februar 1924, die unter den Bedingungen des militärischen Ausnahmezustandes stattfand, zu einem Hort der Reaktion und Aufmarschgebiet der NS-Bewegung.

Konferenz »1923 – Sattelzeit der Revolution. Umbrüche in Politik, Kultur und radikaler Gesellschaftskritik«, Helle Panke, Mittwoch, 18. Oktober, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin

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