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Die Welt ist nicht in Ordnung

Günter Wangerin macht Kunst gegen antidemokratische und menschenfeindliche Bestrebungen

So stellen sich die Rechten das künftige öffentliche Leben vor: »Parklandschaft«, gemalt 2016
So stellen sich die Rechten das künftige öffentliche Leben vor: »Parklandschaft«, gemalt 2016

Günter Wangerin ist ein politischer Künstler aus München, für den es keine unpolitischen Künstler gibt. Denn keine Haltung zu haben ist ja auch eine Haltung. »Böse gesagt, kann sie lauten: Es interessiert mich nicht, oder: Ich sage nichts, nehme sozusagen billigend in Kauf, was da oder dort passiert«, schreibt er einleitend zu seinem Bildband »Kunst in Zeiten der Barbarei – Versuche«. Bei Wangerin ist es anders. Die ersten vier Zeilen des Interviews, das Theodor W. Adorno 1969 kurz vor seinem Tod dem »Spiegel« gegeben hat, eröffnen sein Buch: »Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ...« leitete der »Spiegel« das Gespräch ein und bekam von Adorno die Antwort: »Mir nicht.«

Dieses generelle Nichteinverstandensein mit den hiesigen Zuständen ist der Motor von Wangerins vielfältiger Kunstproduktion. Er malt und er modelliert, er zeichnet und karikiert, ist Grafiker und auch Aktionskünstler im öffentlichen Raum – zwischen Aufklärung, Agitprop und politischer Performance. »Kunst in Zeiten der Barbarei« ist eine große Ausstellung seiner bisherigen Arbeiten. Die reichen von studentischen Comics über Politikermasken, Skizzen beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München bis zu Briefmarken gegen die Aufrüstung der Bundeswehr in heutiger Zeit (die aber nicht verschickt werden, sondern als Plakate vergrößert werden, um sie auf Demonstrationen zu tragen).

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Die heutige Zeit ist vor allem ein »Gemetzel, das sich Normalität nennt«, schreibt der Bildhauer und Historiker Günther Gerstenberg in dem Band: »Es ist zum Heulen. Utopie war gestern, heute verteidigen wir die schlechten Zustände gegen noch schlechtere.« Wangerin aber macht unverdrossen weiter, mit seiner »Kunst gegen antidemokratische und menschenfeindliche Bestrebungen«, wie sie Brigitte Wolf, Stadträtin für die Linkspartei in München, bezeichnet. Er begreift sich als ein »Anhänger der Kunst, die nichts verschweigt, wobei mir daran gelegen ist, mich der Realität mit Mitteln des Witzes und der Ironie zu nähern. Da ist es leichter, Gehör zu finden, als die Realität so grau abzubilden, wie sie ist. Klar ist aber auch: Diese Art von Kunst wird am Ende nur der verstehen und genießen können, der sie braucht.«

Deshalb beteiligte er sich am »Anachronistischen Zug«, mit dem 1980 gegen Franz Josef Strauß als Rechtsaußen-Kanzlerkandidat von CDU/CSU protestiert wurde, in Form eines Straßentheaters, das in mehreren bundesdeutschen Städten aufgeführt wurde. Es war die Agitprop-Inszenierung eines Gedichts, mit dem Bertolt Brecht 1947 faschistische Kontinuitäten in den kapitalistischen Westzonen gegeißelt hatte: »Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy«. Ehemalige Nazis und Profiteure der Terrorherrschaft in Justiz, Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft wurden nicht behelligt und konnten als angebliche Demokratieverteidiger weitermachen, vor allem gegen den roten Osten. Im beginnenden Kalten Krieg wirkte das wie zugespitzte antiamerikanische Agitation, doch es stimmte, was bundesdeutsche Historiker und Soziologen dann auch bestätigten – aber erst in den 1970er Jahren.

Brechts Gedicht ist lang und kompliziert, es hat 40 Zeilen, die in dem Band abgedruckt sind. Doch seine Inszenierung hatte einen hohen Schauwert. Während das Gedicht vorgetragen wurde, fuhren Darsteller von bekannten bundesdeutschen Politikern und Industriellen, die das NSDAP-Regime unterstützt hatten, wie Karl Carstens, Hans Karl Filbinger oder Hermann Josef Abs, am Publikum auf Militärlastern vorbei – indem sie deren Gesichter als Masken trugen, die Günter Wangerin gefertigt hatte und zwar erst aus Nähkörbchen und dann aus flüssigem Naturkautschuk. Letzteres lernte er neun Jahre vor Mauerfall im Berliner Ensemble bei Eduard Fischer, der schon in den 50er Jahren Masken für Brechts Inszenierungen geformt hatte. Den Kontakt hatte ihm die Schauspielerin Hanne Hiob, die älteste Tochter von Brecht, vermittelt. Sie machte beim »Anachronistischen Zug« mit, den sich Thomas Schmitz-Bender ausgedacht hatte. Er war eine der führenden Figuren des Arbeiterbunds zum Wiederaufbau der KPD.

Diese Organisation hatte nicht nur den längsten Namen aller maoistischen Gruppen der BRD, sie verfügte auch als einzige über einen besonderen Kunst- und Stilwillen. Präsentierten sich die anderen Maoisten in skurrilen Kleinparteien, die die einstige Kraft der KPD der Weimarer Republik in pathetischen bis peinlichen Reenactments beschworen, praktizierte der Arbeiterbund politisches Straßentheater, das Schmitz-Bender als »die Anwendung von Brecht auf heute« bezeichnete. Besonders gern wurde dabei die Bundeswehr satirisch attackiert. Vom »Anachronistischen Zug« war Franz Josef Strauß nicht amüsiert und klagte auf Beleidigung, doch der Arbeiterbund ging bis vors Bundesverfassungsgericht und wurde schließlich freigesprochen. Der Zug wurde in den Folgejahren in aktualisierter Fassung auf die Reise geschickt, auch in die frühere DDR, in der die Massenarbeitslosigkeit grassierte und westliches Führungspersonal kolonialistisch agierte.

Als Aktionskünstler wurde Günter Wangerin mehrfach verhaftet und angeklagt, wobei er seine Performances im Gerichtssaal fortsetzte, etwa, als er in München 2015 einen Fahnenappell für Offiziersanwärter der Bundeswehr gestört hatte, indem er sich eine Gauck-Maske aufsetzte und den Soldaten »Hab acht!« zurief und dann von Feldjägern zu Boden geworfen wurde. Für ihn sei »Hab acht!« die Aufforderung an die Soldaten gewesen, wachsam zu sein, sagte er vor Gericht. Das Verfahren wurde eingestellt, aber auch seine Klage gegen die Feldjäger wegen Körperverletzung.

Geboren 1945 in der Nähe von Nürnberg, war er nicht auf der Kunsthochschule, sondern in linken Gruppen, während er Medizin studierte. Seine Vorbilder sind Goya, Daumier, Grosz und Dix, aber auch Alfred Hrdlicka, Hans Haacke, Wilhelm Busch und Karl Valentin. Er ist ein sich selbst ermächtigender Autodidakt, zeitlebens angetrieben von Antifaschismus und der Idee des Kommunismus, die er nicht wie andere als eine Mode aus der Jugend abgelegt oder aufgegeben hat. Für ihn ist »keine einzige der reaktionären Maßnahmen auf staatlicher Ebene« denkbar ohne die Vorgeschichte des deutschen Faschismus und dessen Vertuschung und Verharmlosung in der Bundesrepublik, das sei ihm vollends erst jetzt im Alter klar geworden, schreibt er. Dies betreffe »die systematische Ausgrenzung Geflüchteter, den gezielten Abbau demokratischer Rechte, Militarisierung und Kriegsvorbereitung, aber auch auf scheinbar individueller Ebene begangene Verbrechen an Menschen, ob an Juden, an solchen mit anderer Hautfarbe oder anderer Nationalität.«

Für den Neubau des Turms der Garnisonkirche in Potsdam, ein bekanntes Sinnbild des preußischen Militarismus, an dem viele Militärparaden entlangmarschierten, und der Ort, wo sich Adolf Hitler und Reichspräsident Paul von Hindenburg am 21. März 1933 die Hand gaben, sodass Hitler zum »Führer und Reichskanzler« ernannt werden konnte, hat Wangerin vor einem Jahr einen eigenen ironischen Vorschlag gemacht. Auf die Turmspitze sollte ein rotierender Unschuldsengel gesetzt werden – als Zeichen des konstanten Friedenswillens des deutschen Volks, »der sich ohne Zweifel bis in die Zeit der Errichtung der Garnisonkirche im Jahre 1730 zurückverfolgen lässt«.

Günter Wangerin: Kunst in Zeiten der Barbarei – Versuche. Hg. v. Brigitte Wolf u. Günther Gerstenberg. Verlag Das Freie Buch München. 156 S., 235 Abb., br., 24,90 €.

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