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Mal hü, mal hott – und doch immer im Galopp

Peter Brandt und Detlef Lehnert haben eine kurzweilige Geschichte der Sozialdemokratie verfasst

Die Arbeiterschaft scheint die SPD als ihr traditionelles Klientel heute verloren zu haben.
Die Arbeiterschaft scheint die SPD als ihr traditionelles Klientel heute verloren zu haben.

Bücher zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie sind nicht gerade rar. Aber da in den letzten zwei Jahrzehnten keine mehr erschienen sind, sich in dieser Zeit jedoch wahrlich viel ereignet hat, was die Welt veränderte, nicht nur die Bundesrepublik, und damit auch die SPD vor neuen Herausforderungen steht, haben Peter Brandt und Detlef Lehnert in die Tasten gehauen und eine neue historisch-aktuelle Monografie vorgelegt.

Ihr Kompendium ist strikt chronologisch aufgebaut, beginnt mit der Industriellen Revolution und der Herausbildung eines Proletariats im zweiten Drittel des 19. Jahrhundert, etwas später als in Großbritannien. Bewusstsein der eigenen Kraft und erste organisatorische Ansätze verorten die Autoren bereits in der 1848er Revolution mit der Gründung der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung, geleitet vom damals gerade erst 24 Jahre jungen Schriftsetzer Stephan Born.

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Ihren eigentlichen Gründungsakt führt die SPD allerdings auf den von Ferdinand Lassalle 1863 in Leipzig ins Leben gerufenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) zurück, der – so Brandt/Lehnert – einen Revolutionsbegriff vertreten habe, »auf dem einst der Entwicklungsgedanke des sozialdemokratischen Verständnisses Marx’scher Theorie aufbaute«: »Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den tatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und konsequente Durchführung geben.« Dieser geschichtstheoretische Ansatz neigte reformerischem Tagespragmatismus ebenso wenig zu wie radikaler Aktionismus, merken Brandt/Lehnert an. Gewürdigt wird von ihnen Lassalle jedoch vor allem deshalb, weil er einer eigenständigen Arbeiterbewegung in Abgrenzung und Unabhängigkeit von bürgerlich-liberalen Kräften zur Geburt verhalf. Kritisch reflektieren sie hingegen dessen Geringschätzung der Gewerkschaften inklusive Streiks und sein Dogma des »ehernen Lohngesetzes«.

Über die Stationen SDAP, die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei, und deren Vereinigung mit dem ADAV 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) im nunmehr einheitlichen deutschen Nationalstaat, durch Otto von Bismarck vier Jahre zuvor mit Blut und Eisen geschmiedet, gelangt das Autorenduo zum Erfurter Parteitag 1891, auf dem die Partei zu ihrem bis heute gültigen Namen, ihren drei Buchstaben kam: SPD, Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Marxens Randglossen zum Gothaer Parteiprogramm werden nicht explizit rezipiert, Brandt/Lehnert urteilen aber, dass dessen Schlussfolgerung, »die Lassallesche Sekte« habe gesiegt, »etwas überspitzt« gewesen sei.

Gewürdigt wird das Erstarken der Partei trotz des Bismarck’schen »Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Programmatisch kehrte man unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht, Karl Kautsky und Eduard Bernstein zu Marx zurück. Es folgen Wahlerfolge, aber auch Reformismusdebatten und Strategiedifferenzen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht betreten die Bühne. Die Sympathie beider Autoren für die Ablehnung der Kriegskredite durch Liebknecht und Otto Rühle im Dezember 1914 wider Fraktionsdisziplin, Hurrapatriotismus und »Burgfriedenspolitik« ist offenkundig und war auch anders nicht zu erwarten. Im Stakkato wird die Parteienspaltung thematisiert, die Gründung der USPD, deren Vereinigung 1920 mit der KPD, die diese junge Partei zu einer Massenpartei werden ließ, sowie 1922 die Rückkehr mehrheitlich der Funktionäre und weniger der einfachen Mitglieder in die SPD.

Mit dem Ableben des »Arbeiterkaisers« August Bebel 1913 sei an der Parteispitze endgültig ein Generationswechsel erfolgt, konstatieren Brandt/Lehnert, die dann die ambivalente Haltung der SPD-Volksbeauftragten in der Novemberrevolution 1918 problematisieren. Jene seien Kompromisse mit den bürokratischen und militärischen Herrschaftsträgern des alten Obrigkeitsstaates eingegangen, damit »die Regierungsmaschine glatt läuft«. Was freilich nicht nur zu unendlicher Enttäuschung der Arbeitermassen und SPD-Basis sowie zum Triumph der Konterrevolution führte, sondern auch das Klima in der Weimarer Republik entscheidend beeinflussen sollte. Gleichwohl die Partei gar einen Reichspräsidenten, Friedrich Ebert, sowie fast durchgängig von 1920 bis 1932 den preußischen Ministerpräsidenten, Otto Braun, stellte – »eine stolze Feste im Lager der Republik« – konnte sie die Gesellschaft nicht nachhaltig beeinflussen. Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926, dem die Parteispitze im Gegensatz zur Stimmung der eigenen Mitglieder und Wähler zunächst skeptisch gegenüberstand, sowie der Blutmai 1929 in Berlin unter dem sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel sind hier nicht vergessen. Zu letzterem Ereignis liest man: »Anlass war der Zusammenprall gewaltbereiter Kommunisten mit der Ordnungsmacht.« Ansonsten halten sich die Autoren mit Schuldzuweisungen an die Adresse der KPD zurück, würdigen Kommunisten als erste Opfer der Hitlerfaschisten und natürlich auch den Widerstand und Blutzoll der Sozialdemokraten. Auch deren Verdienste beim Wiederaufbau Deutschlands, die im Adenauer-Staat nicht honoriert wurden. Willy Brandt wurde als »Landesverräter« diffamiert, auch noch als er Kanzler war und die Neue Ostpolitik wagte.

Die Notstandsgesetze und der Nato-Doppelbeschluss, mit denen sich die SPD nicht mit Ruhm bekleckerte, werden nicht verschwiegen. Machtverlust und Mitgliederschwund waren die Quittung. Und auch die »zögerliche Haltung« der SPD unter Oskar Lafontaine wurde von den Wählern ebenso bestraft wie die »Agenda 2010« von Gerhard Schröder mit dem Austritt tausender Mitglieder.

Die Autoren diskutieren zwischendurch die verschiedenen Parteiprogramme. War das Heidelberger von 1925 zu Marx zurückgekehrt, verabschiedete sich das Godesberger 1958 vom Marxismus, das 1989 vom Berliner und dieses wiederum vom Hamburger Programm 2007 abgelöst wurde. Der Autoren Erwartungen an die »Ampel« als »historisches Bündnis« ist gedämpft, »allein wegen der schwierigen Dreierkonstellation«, »äußeren Verwicklungen und zugleich sozialen Verwerfungen«.

Als Fazit 150-jähriger Geschichte der SPD könnte man konstatieren: Mal hü, mal hott – und doch immer im Galopp. Es ist eine schier atemberaubende Story. Und man glaubt bei der Lektüre dieses Buch auch unterschwellig der Verfasser emotionale Anspannung zu spüren (verständlich bei heutigen Umfragewerten). Obwohl sie sich als seriöse Wissenschaftler dem Prinzip nüchterner Objektivität verpflichtet fühlen und dieses auch strikt einhalten, sind sie persönlich involviert. Aber das macht dieses Buch von Peter Brandt und Detlef Lehnert eben auch sympathisch: Es ist nicht nur ein fakten- und aufschlussreiches Kompendium, sondern ebenso eine ehrliche Bestandsaufnahme, nicht in Parteideutsch abgefasst und doch parteilich.

Peter Brandt/Detlef Lehnert: Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. J. H. W. Dietz, 244 S., br., 20 €.

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