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Exkursion durch Tibet: Jenseits von Kitsch und Klischee
Die kulturelle Aneignung der Welt in Tibet – eine Erkundungsreise im 75. Jahr der Volksrepublik China
Wir erreichten den Ort erst bei Mitternacht. Die Fahrt mit dem Mietwagen hatte etwa sechs Stunden gedauert. Sie wäre kürzer ausgefallen, hätten wir die Autobahn genommen. Doch unser selbstbewusster Fahrer aus Beijing, der die alte Route schon mal gefahren war, meinte, dass diese landschaftlich wesentlich interessanter sei, weshalb er sich für diese Berg-und-Tal-Bahn entschied. Allerdings hatte er bei der Planung übersehen, dass nachts nicht nur alle Katzen grau sind, sondern auch die tibetischen Berge. Ganz zu schweigen davon, dass alte Straßen nicht unbedingt die besten sind. Die Schlaglöcher wiesen eine bemerkenswerte Tiefe auf, und manchmal versperrten herabgestürzte Felsbrocken den Weg, was gefährliches Rangieren nötig machte. Aber was wäre Tibet ohne Abenteuer?
Am Morgen wecken uns Kühe. Sie traben gelassen, wie beim Blick aus dem Hotelfenster feststellbar, zwischen den parkenden Fahrzeugen die Straße hinauf. Inzwischen haben wir uns an den Anblick frei laufender Rinder und Yaks gewöhnt. Sie ziehen träge ihre Bahnen und stören sich nicht am brausenden Verkehr. Wie eben auch die Autofahrer nicht an den Vierbeinern Anstoß nehmen. Bei uns daheim in Europa meldet der Verkehrsfunk ganz aufgeregt, wenn mal ein Ochse die Straße quert, und mahnt zur Vorsicht. Hier erregt das Vieh niemanden, das ist Alltag. Man nimmt den Fuß vom Gas oder vom E-Antrieb und umrundet das gemütlich mitten auf dem Asphalt ruhende Rind.
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Die Kreisstadt Xiang Cheng, in der wir Station machen, ehe es noch weiter ins Gebirge geht, zählt etwa 30 000 Bewohner, was für chinesische Verhältnisse nichts ist. Allerdings ist in dieser Region nicht nur die Luft, sondern auch die Besiedlung dünn. Wir befinden uns gleichsam am Fuße des Himalaya in einem Gebiet, das vorzugsweise von Tibetern bewohnt wird. Etwa 5 Millionen Menschen zählt die Ethnie. Was uns in Europa kaum bewusst ist: Diese leben nicht nur im Autonomen Gebiet Tibet (AGT), was etwa elfmal so groß ist wie die DDR, sondern auch in weiteren zehn Autonomen Bezirken und zwei Autonomen Kreisen in den angrenzenden vier Provinzen.
Zwei davon, Sechuan und Yunnan, durchqueren wir aktuell, wir sprechen mit Menschen, besichtigen buddhistische Klöster und glänzende Pagoden, von denen es mehr gibt als Dorfkirchen in Deutschland. Wir staunen über eine bizarre, mal bewaldete, mal vegetationslose Landschaft und schneebedeckte Berge. Vor allem aber schnappen wir nach der dünnen Luft, deren Sauerstoffgehalt bei etwa 60 Prozent liegt von dem, was wir sonst so atmen.
Eine ganze Industrie hat sich darauf eingestellt: Es gibt nicht nur Hüte in allen Formen, Farben und Größen, die vor den Sonnenstrahlen schützen, und Regencapes zu kaufen, sondern an jeder Tanke, in jedem Laden und Imbiss auch handliche Flaschen mit Mundstück. Oder, wenn man’s nachhaltiger wünscht, auch einen Gummisack, den man sich in medizinischen Stationen für 10 bis 20 Yuan, das sind weniger als 3 Euro, mit Oxygenium auffüllen lassen kann. Solche Hilfsmittel sind ausschließlich für Touristen gedacht, denn die Tibeter selbst sind dank ihrer genetischen Ausstattung auf ein Dasein in dünner Luft vorbereitet. Daher rauchen die meisten Männer unbeschwert, wo unsereiner bereits zu keuchen beginnt.
Jedenfalls fliehen wir sofort aus dem Frühstücksraum, wo sich eine Gruppe Tibeter in eine Rauchwolke hüllt, und folgen den Kühen zum Stadtzentrum. Dort reiht sich Imbiss an Imbiss, wo man für kleines Geld Teigtaschen, Nudelsuppen und Eier in unterschiedlichen Aggregatzuständen verzehren kann; es gibt unzählige Sorten Tee und, wie in ganz China üblich, klares, aber heißes Wasser. Das ist kein Reflex auf die meist sehr scharf gewürzten Speisen, sondern ein medizinisches Allheilmittel: Heißes Wasser, das sie Baikaishui nennen, ist gut für die Verdauung und fördert die Durchblutung, sagen die Chinesen und trinken auf nüchternen Magen gleich mehrere Gläser.
Wir kommen mit einer jungen Frau am Nachbartisch ins Gespräch. Eine Tibeterin, natürlich. Ihre Tochter besucht die älteste Gruppe im Kindergarten, erzählt sie, danach geht es in die Schule, wo sie schon in der ersten Klasse drei Sprachen zu lernen beginnen: die Muttersprache Tibetisch, Chinesisch und Englisch. Mandarin, also Chinesisch, ist die älteste Zeichenschrift der Welt, seit 5000 Jahren kommuniziert man auf diese Weise. Aber wie sich etwa bei der Begegnung mit buddhistischen Mönchen zeigt, reden diese die Sprache anders als die Freunde aus Beijing. Man hat sichtlich Mühe sich zu verstehen: andere Begriffe, andere Betonung, andere Bedeutung. Englisch hingegen ist eine Buchstabenschrift und inzwischen fast eine zweite inoffizielle Amtssprache, die nicht nur der sprachlichen Verständigung zwischen den Vertretern der über 90 Ethnien nützt, sondern vor allem der grenzüberschreitenden Kommunikation dient. Daher wird sie von Kindesbeinen an unterrichtet.
Die blauen Hinweis- und Richtungsschilder auf den Autobahnen beispielsweise sind zweisprachig und helfen den Nichtchinesen bei der Orientierung. So viele Langnasen sind gegenwärtig allerdings noch nicht wieder unterwegs; die Zahlen der in- wie ausländischen Touristen liegen noch unter dem Niveau von 2019, die Pandemie wirft noch immer ihre Schatten. In den Touristen-Hotspots, in Nationalparks und Naturreservaten stehen nicht wenige Häuser leer, sind die Scheiben blind. Durchaus exemplarisch, was uns ein Restaurantbesitzer in Yading erzählte: Seinen Kredit hatte er getilgt, und als er beginnen wollte, Geld mit seinem Unternehmen zu verdienen, kam Corona. Im Unterschied zu seinen Nachbarn besaß er jedoch noch einige Rücklagen, die ihn überleben ließen; seine Kollegen nebenan hingegen mussten für immer schließen.
Die junge Mutter in der Garküche von Xiang Cheng reagiert bereitwillig auf unsere Fragen. Sie macht da keine Ausnahme, es ist wahrlich nicht schwer, mit Tibetern ins Gespräch zu kommen. Sie lebe gern hier, sagt sie, unter den Chinesen, denn man schenke ihr mehr Beachtung und Aufmerksamkeit als in Tibet selbst. Außerhalb des Autonomen Gebietes gehöre sie zu einer Minderheit und genieße Privilegien. Die habe man auch in Tibet, natürlich. Aber dort sei man eben unter seines- und ihresgleichen. Privilegien? Die Ein-Kind-Politik zum Beispiel war nie ein Thema, sie galt nur für die Han, die über 90 Prozent der chinesischen Bevölkerung stellen. Die Minderheiten unterlagen solchen Einschränkungen nie. Im Gegenteil. Sie schaut auf ihre Tochter. Es ist nicht das einzige Kind, das sie hat. Beijing habe nie Familienzuwach bei den Minderheiten beschränkt.
Insgesamt vollziehe sich ein steter kultureller Wandel, erzählt sie weiter. Vor Jahrzehnten noch war es bei den Tibetern üblich, dass die Kinder, insbesondere Mädchen, die Schule vor dem Abschluss verließen. Sie blieben unwissend, verweigerten sich der Moderne. Die Nachkommen dieser Generationen hingegen machten nicht nur Abitur, sondern studierten anschließend.
Nahezu jeder ältere Mann und jede betagte Mutter, die wir sprechen, verweisen stolz auf die Bildung ihrer Kinder, was immer gleichbedeutend ist mit sozialem Aufstieg. So verwachsen denn jene Traditionen, die zu bewahren nicht unbedingt sinnvoll sind, sie gehen im Laufe der Jahrzehnte zu Recht unter. Mag sein, dass die Zentralregierung in der Vergangenheit da und dort mit zu großem Nachdruck Bildung und Ausbildung durchsetzen wollte. Doch nicht das Ziel war zu kritisieren, allenfalls die Methoden.
Natürlich ist ein zweisprachiges aufklärendes Schild über dem Urinal in öffentlichen Toiletten (»Ein kleiner Schritt näher zum Becken ist ein großer kultureller Fortschritt«) nicht nur origineller und angenehmer als eine Bildungseinrichtung, die man zwangsweise besuchen muss. Gleichwohl: Die Führung setzt auf die flächendeckende Hebung des Kulturniveaus. Wissen ist Macht, wusste schon Francis Bacon 1598: »For knowledge itself is power.«
Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, konnten weit über 80 Prozent der Chinesen weder lesen noch schreiben. Die Analphabetenquote lag in Tibet noch darüber. Inzwischen meldet Statista, die deutsche Online-Plattform für Statistik, dass 97,2 Prozent der über 15-Jährigen in China lesen und schreiben können. Damit liegt China zwar hinter Deutschland, aber noch immer über dem weltweiten Durchschnitt und beispielsweise selbst vor den EU-Staaten Portugal und Malta.
Wir schlendern nach dem Gespräch mit der Tibeterin zum Markt. Entgegen der journalistischen Praxis haben wir es aufgegeben, Namen zu notieren. Die Transkription erfolgt in so vielen Zeichen, wie Menschen am Tisch sich anheischig machen, die Laute zu verschriftlichen. Namen sind hier wirklich nur Schall, und bei den Männern meist auch Rauch.
Die Freifläche, der Markt, wird gesäumt von einigen Neubauten, darunter die Stadtverwaltung und ein Fünf-Sterne-Hotel, dessen Bauherr jedoch kurz vor der Fertigstellung pleiteging, wie es heißt. Wüsste man es nicht – der leuchtenden Fassade sieht man die Leere dahinter nicht an.
Im weiten Rund sind die Ergebnisse eines landesweiten Fotowettbewerbs auf- und ausgestellt. Die Bilder sollen die Verbindung von Mensch und Natur zeigen. Sie sind hochprofessionell und würden ausnahmslos jedes Hochglanzmagazin im Westen schmücken. Auch hinsichtlich des keineswegs abwesenden Kitsches.
Der Erste Preis ging an ein Foto, das eine tibetische Neubausiedlung in einem Talkessel zeigt, über den sich ein Regenbogen wölbt. Neugierig werden von Passanten die Fotos betrachtet und wechselseitig kommentiert: von Jungen und Alten, Städtern und Dörflern, Frauen und Männern. Kulturelle Bildung ist ein Menschenrecht. Sie nehmen es sich selbstbewusst – und wie selbstverständlich wahr.
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