Zwischen Pogrom und Pogrom

Es war einmal ein Schtetl ...

Judenpogrom im Mittelalter
Judenpogrom im Mittelalter

Stellt euch sich einmal vor, das Wort »Juden« wäre ein Verb. Zugegeben, das ist zwar vielleicht ziemlich hypothetisch, aber es ist dennoch überaus sinnlos. Daher fragt ihr euch vielleicht: Warum sollte man das tun? Ich aber antworte: Nu, man muss es nicht tun; es genügt, wenn man es beinahe lässt.

Also stellt es euch einmal vor. Denn vorstellen kann man sich einiges. Man könnte sich sogar vorstellen, »Nomen« sei kein Nomen, sondern ein Verb. Was hieße »nomen« als Verb? Vermutlich hieße es: ein Nomen sein. Aber da »nomen« dann kein Nomen wäre, sondern ein Verb, müsste »nomen« wohl heißen: ein Verb sein. Das klingt vielleicht ein wenig talmudistisch, was wohl daran liegen mag, dass es gar nicht wenig talmudistisch ist.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Aber ich schweife ab. Ihr fragt euch vielleicht: Warum schweife ich ab? Weil ich nicht darüber reden will, worüber ich reden soll. Und zugleich will ich doch darüber reden, worüber ich reden soll, nur will ich es nicht gleich, weil niemand gleich darüber redet, worüber ich jetzt reden soll, und weil niemand leicht darüber redet, worüber ich leicht reden soll. Deshalb stelle ich mir vor, »Juden« wäre kein Hauptwort, sondern ein Zeitwort. Was hieße »juden« als Zeitwort? Vielleicht hieße es »trotzdem leben«, vielleicht hieße es »überleben«, oder vielleicht hieße es auch »nicht überleben«.

Manchmal erzählt mir mein Vater seine Geschichte. »Kurz nach Beginn des Krieges kamen sie, brannten das Dorf nieder und brachten alle zu Tode. Ich war der Einzige, der überlebte und entkommen konnte, durch glückliche Fügung.« »Das kann ich gar nicht glauben«, entfährt mir dann manchmal, und mein Vater antwortet: »Ich auch nicht, und es ist auch nicht wahr, denn ich habe nicht überlebt und bin mit den anderen gestorben, und du wurdest nie geboren.«

Manchmal erzählt mir die Mutter ihre Geschichte, manchmal erzählt mir die Großmutter ihre Geschichte, manchmal erzählt mir der Großonkel seine Geschichte, manchmal erzählt mir die Stimme von Großvaters Urgroßvater seine Geschichte; und all das ist ein und dieselbe Geschichte. Und deshalb kann sich einer fragen: Wie wahrscheinlich ist es, dass es dich als Juden überhaupt gibt? Und deshalb kann einer antworten: Sehr unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich, dass man es sich zwar vorstellen kann, dass es einen gibt – denn vorstellen kann man sich einiges –, aber man kann es beinahe auch lassen. Die jüdische Existenz ist eine unwahrscheinliche Existenz. Die jüdische Existenz ist eine dazwischen.

Jetzt fragt ihr vielleicht: Wozwischen? Zwischen drüben und dort, zwischen halbwegs und irgendwie, zwischen irgendwann und jemals, zwischen vielleicht und womöglich, zwischen weg und hinfort, zwischen Pogrom und Pogrom. Dazu erzähle ich euch eine Geschichte, nicht von meinem Vater, nicht von meiner Großmutter, nicht von meinem Urgroßvater, und doch wieder dieselbe. Die Geschichte geht so:

Es war einmal ein Schtetl. Dann kamen die Leute aus dem Nachbardorf und richteten ein Pogrom an. Dann kamen die Männer des falschen Zaren und richteten ein Pogrom an. Dann kamen die Männer des echten Zaren und richteten ein Pogrom an. Dann kamen die Kosaken und richteten ein Pogrom an. Dann kamen die Polen und richteten ein Pogrom an. Dann kam die Weiße Armee und richtete ein Pogrom an. Dann kam die Rote Armee und richtete ein Pogrom an. Dann kamen die rumänischen Faschisten und richteten ein Pogrom an. Dann kamen die deutschen Nazisten und richteten ein Pogrom an. Dann kamen die Befreier und richteten ein Pogrom an. Und dann gab es kein Schtetl mehr, sondern nur noch Stadt.

Danach ist jedes Wort ein anderes, auch wenn es ein und dasselbe ist. Danach sind die Hauptwörter plötzlich keine Hauptwörter mehr, sondern höchstens noch Nebenwörter und Kleinwörter. Das Beiwort wird Gegenwort, das Zeitwort ein Wort zur Unzeit. Worte sind keine Worte mehr, sondern Klagen, Klagen sind keine Klagen mehr, nur ein Stöhnen, das Stöhnen ist kein Stöhnen mehr, nur ein Zittern; die Worte versteht man nicht, die Klagen hört man nicht, das Zittern fühlt man nicht; das Zittern ist nur ein Erzittern, das Erzittern ist nur ein Erinnern, das Erinnern ist nur ein Abschweifen.

Deshalb schweife ich ab.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.