Gehirn aus der Spur gedrängt

Systematische Delir-Untersuchung für alle Klinikpatienten ab 65 empfohlen

Katheter und andere Zugänge, die etwa in der Intensivmedizin nötig sind, reißen sich Delir-Patienten manchmal selbst ab.
Katheter und andere Zugänge, die etwa in der Intensivmedizin nötig sind, reißen sich Delir-Patienten manchmal selbst ab.

Das Delirium als Begriff ist im Zusammenhang mit zu starkem Alkoholgenuss vielen zumindest vage bekannt. Im Kreuzworträtsel wird es gelegentlich als Synonym für Betrunkenheit erfragt. Zurückgeführt werden kann es auf die lateinischen Worte »de lira ire«, was so viel heißt wie »aus der Spur geraten«.

Genau das geschieht dem Gehirn bei einem Delirium, medizinisch handelt es sich um eine plötzliche Funktionsstörung desselben. Die hochgradige akute Verwirrtheit, das Delir, kann verschiedene Ursachen haben. Es geht jedoch nicht um psychisches, sondern um körperliches Geschehen, das unter anderem die Störung von Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Psychomotorik bewirkt. Ein Delir stellt immer eine Notfallsituation dar, die intensivmedizinisch behandelt werden muss.

Nach Zahlen von 2013/14 entwickeln vor allem ältere Menschen ein Delir, im Krankenhaus nach größeren geplanten Eingriffen bis zu einem Viertel dieser Patientengruppe. Nach sehr riskanten Eingriffen an Aorta, Hüftgelenk oder der Speiseröhre tritt das Syndrom sogar bei etwa der Hälfte der älteren Patienten als häufigste chirurgische Komplikation auf. Bei Notfällen zeigt es sich bei einem Viertel dieser Menschen schon bei Einlieferung ins Krankenhaus. Auf Intensivstationen wird für alle Patientengruppen je nach Erkrankungsschwere bei 80 Prozent mit einem Delir gerechnet.

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Es handelt sich damit um eine so häufige Komplikation, dass Kliniken gut daran tun, sich mit deren Vermeidung zu befassen. Fünf medizinische Fachgesellschaften, vertreten waren hier Psychiater, Neurologen und Geriater (Fachärzte für die Behandlung alter Menschen), einigten sich kürzlich auf eine grundlegende Empfehlung in dieser Sache: Ab einem Alter von 65 Jahren sollten Patienten bei Krankenhausaufnahme auf eine kognitive Störung hin getestet werden. Für ein solches Screening gebe es verschiedene Testverfahren. Unter den Fachleuten war man sich bei der Vorstellung der Empfehlung nicht ganz einig über den Zeitaufwand dafür.

Gibt es jedoch dabei einen auffälligen Befund, empfehlen die Fachgesellschaften, das Screening in den ersten drei bis fünf Tagen mindestens einmal täglich zu wiederholen. Aktuell bleibt das Syndrom oft unerkannt, ebenso wie eine Demenz, die zuvor noch nicht diagnostiziert wurde, aber bereits besteht. Oder die von Patienten nicht angegeben wird, wie Katharina Geschke, Oberärztin einer psychiatrischen Klinik der Mainzer Uni-Medizin, ergänzt. Grund der stationären Aufnahme war die Demenz in der Regel nicht. Patienten mit diesem Leiden haben zudem ein erhöhtes Risiko, auch ein Delir zu entwickeln.

Die Folgen sind laut Psychiaterin Geschke gravierend. Die Betroffenen verhalten sich herausfordernd, entwickeln weitere Komplikationen wie Thrombosen oder Wundheilungsstörungen. Auf sich selbst gestellt, essen und trinken sie nicht ausreichend. Im Krankenhaus entfernen sie sich Zugänge, etwa Katheter, die zur Überwachung oder für Infusionen gelegt wurden. Das wiederum und andere Formen der Selbstgefährdung können eine Fixierung nötig machen, was auch das Personal belastet. Unter dem Strich, so beklagt es Geschke, ist ihr Zustand bei der Entlassung schlechter als bei der Aufnahme.

»Eine Pille gegen das Delir gibt es nicht«, räumt die Ärztin Christine von Arnim ein. Sie leitet die Klinik für Geriatrie der Universität Göttingen und empfiehlt ein »proaktives Delirmanagement«. Dazu gehören vor allem nichtpharmakologische Komponenten. An erster Stelle gehe es darum, ein sensibles Umfeld zu schaffen. Dazu gehören, wie schon länger bekannt, eine analoge Uhr und ein Kalender in Sichtweite des Patientenbettes.

Wichtig können persönliche Gegenstände, darunter auch ein Familienfoto, in Bettnähe sein. Die Zimmer sollten Tageslicht haben, um den Realitätsbezug zu stärken. Einfache Piktogramme zum Beispiel für Bad und WC sind ebenfalls sinnvoll. Außerdem: »Es muss dafür gesorgt werden, dass die Patienten ihre Brillen und Hörhilfen nutzen!«

Das scheinen recht einfache Vorkehrungen zu sein, die auch anderen Patienten nicht schaden sollten. Aber sie müssen quasi mitgedacht werden – eigentlich auf fast jeder Station, denn die Hälfte der Krankenhauspatienten ist in Deutschland heute schon älter als 65 Jahre. Zudem müsse auch das Personal bei dem Thema qualifiziert sein. Es gehe nicht nur um das Erkennen des Syndroms, so von Arnim, sondern auch um die Kommunikation mit den Patienten und Respekt ihnen gegenüber.

Weil Patienten mit einem Delir länger im Krankenhaus bleiben, weil sie Fähigkeiten zur Selbstversorgung verlieren und sie häufig im Anschluss nur noch in einem Heim versorgt werden können, hat das Syndrom für Jana Köbcke durchaus eine ökonomische Bedeutung. Die Leiterin der Geriatrie am Bonifatius-Hospital Lingen benennt den Aufwand, der in der Praxis schon für das Screening entsteht: »Es gibt ja viele Möglichkeiten, wie Patienten in das Krankenhaus kommen – über die Notaufnahme auf die Intensivstation oder gleich in den OP, oder direkt in eine Fachabteilung. Wer macht nun das Screening?« Das Vorgehen müsse geplant werden, für das ganze Haus. Und sie beharrt darauf: »Das kostet Zeit und Personal.«

Das Konzept für die Delir-Prävention sollte für das jeweilige Krankenhaus einheitlich sein, die jeweilige Geschäftsführung müsse dafür gewonnen werden. Als Argumente für diese Diskussion nannte sie die Verkürzung der Verweildauer und die Möglichkeit, Personal zu halten.

Köbcke hat zudem vor, in Lingen ein »demenzsensibles Krankenhaus« aufzubauen. Dazu könnte ein sogenanntes Kognitionsteam beitragen, das sich auch delirgefährdeten Patienten widmet, diese betreut und auch Angehörige und Bezugspersonen beraten kann. Ein solches Team besteht aus speziell geschulten Pflegekräften, die bei Bedarf Neurologen, Geriater und andere Fachärzte einbeziehen.

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