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Ewald Iljenkow: Wer denkt abstrakt?
Eine Erinnerung an den sowjetischen Marxisten Ewald Iljenkow
Ewald Wassiljewitsch Iljenkow wäre am 18. Februar 100 Jahre alt geworden; am 21. März 1979 hat er sich selbst ermordet. Seine Tochter, die Journalistin Jelena Illesch, beschrieb in einem Artikel die »philosophische Einsamkeit« ihres Vaters am Ende seines Lebens. Während er noch gegen die Stagnation offizieller Auslegungen der marxistischen Theorie gestritten habe, hätten sich immer mehr Freunde, die Dissidenten geworden waren, von ihm und seinem Marxismus abgewandt, um sich widerstandslos der Ideologie des Westens anheimzugeben.
In jenen Jahren trank Iljenkow, oft zusammen mit seinem Freund, dem ziemlichen Universalwissenschaftler Pobisk Kusnezow, der bis zum Jahr 2000 lebte, und von dem es ein Youtube-Video aus den 90ern gibt, in welchem er vor zuhörenden Studenten die Dialektik Hegels mit einem »Slinky« (auch Treppenläufer genannt) vergleicht.
Kusnezow wie Iljenkow, und auch Iljenkows Vater, der Kriegskorrespondent und Schriftsteller Wassili Pawlowitsch Iljenkow, waren im Zweiten Weltkrieg als Rotarmisten an der Front. Ewald erlebte das Kriegsende als 21-Jähriger in Berlin, wo er Blumen auf das Grab von Hegel legte. Er mochte die Musik Richard Wagners, die er, Aussagen seiner Verwandten zufolge, aus Deutschland mit nach Hause gebracht haben soll.
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Apokalyptische Stimmungen scheinen Iljenkow in mannigfaltigen Gestalten angewandelt zu haben. Aus seiner Zeit als Aspirant stammt der Text »Kosmologie des Geistes«: ein szientifisch gefinkelter Aufsatz über die kosmische Mission des Denkens, das als eingeborene Eigenschaft der Materie, die Menschheit kraft ihrer Vernunft in den kollektiven Freitod treiben soll. Denn so würde das unaufhaltsam verlöschende Leben der Materie – mithilfe eines, durch den Selbstmord freigesetzten, notwendigen Energieschubs – reanimiert. Diesem Text verdanken wir den einzigen dieser Tage im Westen erschienenen Text über Iljenkow von Slavoj Žižek: »Ilyenkov’s Cosmology: The Point of Madness of Dialectical Materialism«.
Iljenkows im deutschsprachigen Raum bekanntestes Buch wurde in der Sowjetunion ins Deutsche übertragen und erschien 1979 im Verlag Progress in Moskau mit dem Titel »Die Dialektik des Abstrakten und Konkreten im ›Kapital‹ von Marx«.
Von der Front in die Sowjetunion heimgekehrt, wandte sich der Student Iljenkow mit einer Übersetzungsfrage an Georg Lukács, als er gerade zusammen mit Kommilitonen dessen Buch »Der junge Hegel« ins Russische übertrug. Lukács machte daraufhin Iljenkow mit Michail Lifschitz bekannt, dem Lukács wiederum seinen »jungen Hegel« gewidmet hatte. Iljenkow und Michail Lifschitz wurden Freunde.
In dem Michail Lifschitz gewidmeten Online-Archiv des russischen Künstlers Dmitri Gutow befinden sich, für jeden zugänglich, jedoch nur auf Russisch, Texte von Lifschitz über seine theoretischen Auseinandersetzungen mit Iljenkow und Lukács. Derzeit werden die zwölf Bände einer Gesamtausgabe des Werkes Iljenkows von der Russischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben, wovon schon sechs Bände – ausleihbar auf Russisch in der Staatsbibliothek Berlin – erschienen sind. Sergej Marejew, Schüler Iljenkows, zeichnet in seinem Buch, »Aus der Geschichte der sowjetischen Philosophie: Lukács – Wygotski – Iljenkow«, die drei Autoren als eine Linie innerhalb der sowjetischen Philosophie nach, die sich als methodisches Prinzip dort nicht habe durchsetzen können.
Der dialektische Materialismus, den Iljenkow als diejenige erkenntnistheoretische Herangehensweise offenbarte, durch die nur möglich sei, das zu entdecken, was sich vor der eigenen Nase befindet, ließe sich der Perspektive von Mark Fisher gegenüberstellen. Der Kulturtheoretiker vertrat die These, dass wir uns heute gar nichts anderes als das, was wir vor der eigenen Nase haben, überhaupt auch nur vorstellen können.
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