Erich Kästner: Lesen war wie Atemholen

Vor 125 Jahren wurde Erich Kästner in Dresden geboren – wo er dieses Jahr gefeiert wird

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Junge Erich Kästner konnte sich in Dresden nicht sattsehen – und wurde zum Denkmal.
Der Junge Erich Kästner konnte sich in Dresden nicht sattsehen – und wurde zum Denkmal.

Mit den Beinen baumelnd sitzt der Junge auf der Mauer, die das Grundstück mit der prachtvollen Villa am Dresdner Albertplatz 1 umgibt. Viele Jahre später, als aus dem kleinen Jungen längst der berühmte Schriftsteller Erich Kästner geworden ist, wird er darüber schreiben: »Am liebsten hockte ich auf der Gartenmauer und schaute dem Leben und Treiben auf dem Albertplatze zu. Der Albertplatz war die Bühne. Ich saß zwischen Jasmin und Bäumen, in der Loge und konnte mich nicht sattsehen.« Die Villa gehört seinem Onkel Franz, einem Geschäftsmann, der mit dem Handel von Pferden reich geworden ist.

Kästners Eltern, der Sattlermeister Emil Kästner und Franz’ Schwester Ida Augustin, müssen sich strecken, um ihrem einzigen Sohn ein gutes Leben zu bieten. Erich wird am 23. Februar 1899 in einer kleinen Mansardenwohnung in der Königsbrücker Straße 66 geboren, nur wenige Gehminuten vom mondänen Albertplatz entfernt. Es war »eine Mietskaserne wie tausend andre auch«, beschreibt er das Haus. Wohin ihn das Leben später auch treibt: »Ich selber bin, was sonst ich auch wurde, eines immer geblieben: ein Kind der Königsbrücker Straße«, schreibt er 1957 in seinem autobiografischen Buch »Als ich ein kleiner Junge war«.

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Wie sich die Eltern auch abmühen, der Vater als Sattler in einer Kofferfabrik, die Mutter als Heimarbeiterin, das Geld ist immer knapp. Doch dem Jungen soll es einmal besser gehen. Noch mit über 30 Jahren lässt sich Ida zur Friseurin ausbilden und kann sich schon bald einen großen Kundenstamm aufbauen. Erich, der 1905 eingeschult wird, ist ein Musterschüler. Obwohl er die Methoden in den »Kinderkasernen«, wie er die Schulen nennt, zutiefst verabscheut. Bücher aber werden seine Leidenschaft: »Ich las und las und las. Ich las, als wär es Atemholen. Als wär ich sonst erstickt.«

Während das Verhältnis zu seinem Vater eher nüchtern ist, passt zwischen die Mutter und Erich kein Blatt. Gemeinsam besuchen beide oft die Theater der Stadt. »Stundenlang warteten wir auf der Straße, um, wenn die Kasse geöffnet wurde, die billigsten Plätze zu ergattern. Meine Liebe zum Theater war die Liebe auf den ersten Blick, und sie wird meine Liebe bis zum letzten Blick bleiben«, schreibt er. Wie auch die Liebe zu seiner schwermütigen Mutter, die den Jungen oftmals zum Verzweifeln bringt. »Leb wohl, mein lieber Junge!«, liest er auf den hastig gekritzelten Zetteln, die Erich nicht selten auf dem Küchentisch findet, wenn er aus der Schule kommt. »Dann jagte ich, von wilder Angst gehetzt und gepeitscht, laut weinend und fast blind vor Tränen, durch die Straßen, elbwärts und den steinernen Brücken entgegen. Ich fand sie fast jedesmal. Und fast jedesmal auf einer der Brücken. Dort stand sie bewegungslos, blickte auf den Strom hinunter und sah aus wie eine Wachsfigur.«

Aufgrund seiner glänzenden schulischen Leistungen kann Erich 1913 ein Vorbereitungsjahr am Lehrerseminar belegen. Dort merkt er allerdings schnell, dass er fürs Unterrichten nicht besonders geeignet ist. »Ja, es war der größte Irrtum meines Lebens. Und er klärte sich erst auf, als es fast zu spät war. Als ich, mit 17 Jahren, vor einer Schulklasse stand und, da die älteren Seminaristen im Felde standen, Unterricht erteilen musste.«

Er will lieber studieren. Daraus wird erst einmal nichts. Im Sommer 1917 wird Kästner eingezogen. Wegen einer Verletzung und aufgrund einer Herzerkrankung, die er sich durch den Drill in der Kaserne zugezogen hat, muss er nicht lange mitmachen. Trotzdem lernt er das Militärische hassen. 1919 legt er dann ein so glänzendes Abitur hin, dass er ein Goldenes Stipendium der Stadt Dresden bekommt, das ihm ein Studium ermöglicht.

Er zieht nach Leipzig, studiert Germanistik, Geschichte, Philosophie, Zeitungskunde und Theaterwissenschaften. 1924 tritt er eine Stelle als Redakteur im Feuilleton der »Neuen Leipziger Zeitung« an, wird drei Jahre später wegen eines angeblich pornografischen Gedichts entlassen und zieht nach Berlin, wo er bis zum Ende der Weimarer Republik seine produktivste Zeit erlebt. Er publiziert Gedichte, Glossen, Reportagen, verfasst Rezensionen und Filmkritiken und wird zu einem bekannten Intellektuellen.

Im Oktober 1929 erscheint mit »Emil und die Detektive« sein erstes Kinderbuch, zu dessen Produktion ihn Edith Jacobson, die Besitzerin eines Kinderbuchverlages, überredet hat. Es ist sein Durchbruch zum späteren Weltruhm: Allein in Deutschland wird das Buch millionenfach verkauft und bis heute in mehr als 60 Sprachen übersetzt. Die Verfilmung 1931 wird ein Kassenschlager. Mit »Pünktchen und Anton« (1931) und »Das fliegende Klassenzimmer« (1933) folgen schnell zwei weitere bis heute erfolgreiche Kinderbücher, die vieles aus Kästners eigener Kindheit erzählen. Mit seinem 1931 veröffentlichten autobiografischen Roman für Erwachsene »Fabian – Die Geschichte eines Moralisten« zeichnet er ein Gesellschaftsbild des Niedergangs der Weimarer Republik am Vorabend des Faschismus.

Im Gegensatz zu vielen seiner regimekritischen Kollegen emigriert Kästner nicht nach Hitlers Sieg. Nach den Gründen befragt, wird er später mit einem Epigramm antworten: »Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. Mich lässt die Heimat nicht fort. Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.« Er habe als Beobachter bleiben wollen, um später einen Roman über das »Dritte Reich« zu schreiben – den er aber nie schreibt. Und: Er wollte seine depressive Mutter nicht verlassen, sie hätte es nicht überlebt.

Am 10. Mai 1933 steht Erich Kästner als einziger seiner Kollegen unter den Zuschauern auf dem Berliner Bebelplatz und muss miterleben, wie seine Bücher von den Nazis als »wider den deutschen Geist« in die Flammen geworfen werden. Dank eines Freundes, dem emigrierten jüdischen Verleger Kurt Leo Maschler, werden seine Bücher von nun an im von Maschler gegründeten Atrium-Verlag in der Schweiz verlegt. Unter Pseudonym veröffentlicht Kästner jedoch auch in Deutschland weiter. Obwohl mit Berufsverbot belegt, schreibt er mit einer Sondergenehmigung von Joseph Goebbels unter dem Pseudonym »Berthold Bürger« das Drehbuch zu dem 1943 uraufgeführten und gefeierten Ufa-Unterhaltungsfilm »Münchhausen«.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zieht er nach München, wo er bis 1948 das Feuilleton der »Neuen Zeitung« leitet, später als freier Autor arbeitet, jedoch nie wieder an seine Erfolge anknüpfen kann. Seine geliebte Heimatstadt Dresden sieht er 1946 wieder und schreibt erschüttert: »Jahrhunderte hatten ihre unvergleichliche Schönheit geschaffen. Ein paar Stunden genügten, um sie vom Erdboden fortzuhexen. Das geschah am 13. Februar 1945. Was übrig blieb, war eine Wüste.«

125 Jahre nach Kästners Geburt und 70 Jahre nach seinem Tod 1974 in München feiert Dresden nun das ganze Jahr seinen bekanntesten Schriftsteller. Unter dem Motto »Alles Kästner« gibt es allein bis Juni mehr als 50 Veranstaltungen für alle Altersgruppen – beispielsweise in der Villa Augustin, wo der kleine Erich so gern auf der Mauer und oftmals in der Küche des Onkels saß. Seit 2000 beherbergt sie das Erich-Kästner-Haus für Literatur, das weltweit einzige Kästner-Museum. Zahlreiche Theater und Kinos haben Erich Kästners Werke auf dem Spielplan, im Dresdner Kulturpalast sind zwei Ausstellungen zu sehen. Wer will, kann sich eine kostenlose App herunterladen und auf Kästners Spuren durch Dresden auf Entdeckungsreise gehen. Unter dem Motto »Parole Emil« jagen, wie schon seit vielen Jahren, Drittklässler einen Dieb in der Stadt. Und wer möchte, kann mit der Straßenbahn »Lottchen« durch Dresden reisen und dabei Kästner ganz nahe kommen.

In einem der täglichen Briefe, die Kästner seit Studienbeginn seiner Mutter schickte, schreibt er: »Wenn ich 30 Jahre alt bin, will ich, dass man meinen Namen kennt. Bis 35 will ich anerkannt sein, bis 40 sogar ein bisschen berühmt.« Mit 125 ist Erich Kästner unsterblich. Nicht nur in seiner Heimatstadt.

Kästner in Dresden


Alle Veranstaltungen findet man unter www.dresden-kulturstadt.de.
Kästner-App: Wer auf Kästners Spuren wandeln will, kann sich die kostenlose Audioguide-App »Hearonymus-App« herunterladen (Stichwort Kästner).
Kästner-Führungen für Einzelpersonen und Gruppen bieten u.a. www.igeltour-dresden.de; www.elblandtours.de; www.dresdens-heimliche-mitte.de
Kinderstraßenbahn »Lottchen« kann gebucht werden und ist vereinzelt auch bei öffentlichen Veranstaltungen im Einsatz: www.dresden.de/lottchen
Literatur zu Kästner in Dresden: »Auf den Spuren von Erich Kästner« von Matthias Stresow, Sandstein-Verlag, Dresden; »Als ich ein kleiner Junge war« von Erich Kästner, Atrium-Verlag, Zürich. Eine große Käsntner-Auswahl bietet auch das Erich-Kästner-Haus für Literatur am Albertplatz.

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