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In der Kühle der Nacht: Kiev Stingl ist tot
Zum Tod des einsamen Sängers und Dichters Kiev Stingl
Kiev Stingl, einer der coolsten Sänger und Dichter der BRD, ist tot. Doch nur kleine Kreise wussten um ihn, von den Unbekannteren war er eine Ausnahmefigur. Er führte sein Leben als ewiger Insidertipp – im Dunkeln seiner Texte, Obsessionen und Gewohnheiten. Er klang oft stark nach Lou Reed und das gab ihm einen starken Stil: »Kauf mir Dunkel / schenk mir Nacht / komm nah zu mir«, sang er Anfang der 70er Jahre (aber erst jetzt zu seinem Tod veröffentlicht), »Hallo Baby, hallo Baby, sagen dir die Jungs« 1979 und noch 1989: »Es ist so geil dir zuzusehen, wenn du deine Lippen schminkst, / ich bin verloren in deiner Nähe, das ist das was du willst«. Und dann wurde er so alt, dass er den Verfall und das historische Überholtsein dieser Posen arroganter Männlichkeit, die von den späten 60ern bis in die späten 90er als der Coolheit letzter Schluss galten, noch voll miterlebte. Das hat ihm nicht viel ausgemacht, er hat seine Sonnenbrille ewig aufbehalten. Wie erst jetzt bekannt wurde, starb er am 20. Februar in Berlin im Alter von 81 Jahren.
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»Ich bin ganz sicher: es gibt keinen Markt für mich«, hatte er 1979 Alfred Hilsberg für einen Artikel über ihn in der Musikzeitschrift »Sounds« erzählt und damit recht behalten. »Die Kälte der Zukunft« lautete die Überschrift, weil er damals die These vertrat: »Beim Herstellen von Sachen muss man immer eiskalt sein, keine Gefühle haben. Wenn du die Gefühle kontrollieren kannst, kannst du sie ausdrücken.« Er sang von den Körpern und den Geistern, vom Rausch und vom Reisen und klang dabei nur deshalb so weit draußen und cool, weil er seinen Gesang ohne die Musik aufnahm, die kam erst hinterher. Es waren einfach arrangierte Songs, hergestellt von Profimusikern aus den Bands von Udo Lindenberg und Achim Reichel und später dann von einem Teil der Einstürzenden Neubauten.
Das waren völlig solitäre Platten, aber noch als älterer Mann erklärte er in einem Interview: »Der Begriff Underground hat mir nur eigentlich einmal gut gefallen, und zwar im Zusammenhang mit der Band Velvet Underground. Ansonsten könnte man die Konventionalität strafen, mit der er immer wieder eingesetzt wird.« Wie Lou Reed bei dieser Band sang Kiev Stingl auf seinen beiden besten Alben »Teuflisch« (1975) und »Hart wie Mozart« (1979). Wie Reed begann auch Stingl als Dichter, Anfang der 70er im Umfeld der Hamburger Literaturzeitschrift »Boa Vista«, und wie Reed war er dann einer der wenigen älteren Künstler, die von den Punks anerkannt wurden, als er auf den legendären Indie-Festivals in der Hamburger Markthalle auftrat. Breitere Anerkennung vermied er durch diverse Eskapaden. Erst Ende der 80er hörte er mit dem Alkohol und den Drogen auf, nahm dann aber nach 1989 auch keine Musik mehr auf, sieht man von einem überflüssigen Minialbum von 2022, mit electroartig überarbeiteten Demotapes aus den 80ern, einmal ab.
Begünstigt durch das Vermögen seiner Eltern war Stingl ein freier Geist, der bei aller Suche nach dem tiefen Ausdruck und Aufschrei durchaus Sinn für Ironie hatte, wenn er das Cover von »Hart wie Mozart« wie eine Titelseite des »Spiegel« aussehen ließ (was von diesem verboten wurde) oder wenn er 1981 seine dritte Platte, ein Discoalbum, »Ich wünsch den Deutschen alles Gute« nannte. »Zeitweise herrschte die Befürchtung, dass Stingl eine Art Klaus Kinski der Musikszene werden könnte«, schrieb Jochen Knoblauch 2017 in der »Jungen Welt«, als seine alten Alben wiederveröffentlicht wurden. Er wurde es nicht – weil er es schaffte, immer kurz vor dem Punkt, wenn Pathos peinlich wird, in die Kühle der Nacht abzubiegen.
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