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Social Reproduction Theory: Kapitalistische Widersprüche

Die Theorie sozialer Reproduktion will den Kapitalismus und seinen Widerspruch zwischen Sorge und Profit umfassend begreifen

  • Irina Herb und Sarah Uhlmann
  • Lesedauer: 12 Min.
Viel unbezahlte Arbeit: Die Rolle von Sorge- und Care-Tätigkeiten im Kapitalismus ist immer wieder Gegenstand der kritischen Erweiterung marxistischer Theorien.
Viel unbezahlte Arbeit: Die Rolle von Sorge- und Care-Tätigkeiten im Kapitalismus ist immer wieder Gegenstand der kritischen Erweiterung marxistischer Theorien.

Die sozialen, ökologischen und ökonomischen Krisen führen derzeit zu einem Revival feministisch-materialistischer Bewegungen und Debatten. Eine der einflussreichsten Strömungen ist dabei die »soziale Reproduktionstheorie« (SRT). Die SRT wird zu den »umfassenden Theorien« gezählt, da sie die kapitalistische Produktionsweise mit Unterdrückungsverhältnissen verwoben sieht, statt etwa Kapitalismus und Patriarchat als getrennte Unterdrückungs- und Ausbeutungssysteme zu verstehen.

Zentraler Punkt ist, dass die Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion als abhängig, aber widersprüchlich verstanden wird: Abhängig, da die Produktion von Waren auf die Reproduktion von Arbeiter*innen angewiesen ist; widersprüchlich, da Produktion und Reproduktion unterschiedlichen Logiken folgen und das Kapital ein Interesse daran hat, die Kosten der Reproduktion zu drücken oder auszulagern, was zu Krisen führt.

Während die SRT von manchen als neue marxistische Theorieströmung gefeiert wird, rezipieren andere sie kritisch, insbesondere in Deutschland. Frigga Haug befürchtet sogar, dass der Mythos einer neuen Theoriebildung unter dem Deckmantel der SRT mit der Gefahr einherginge, eine Spaltung des marxistischen Feminismus auszulösen. Referenzpunkt der deutschen Kritik an der SRT ist häufig Lise Vogels Buch »Marxism and the Oppression of Women« von 1983. Das 40 Jahre alte Buch wurde aber nicht nur von anderen SRT-Theoretiker*innen, sondern auch von Vogel selbst kritisch reflektiert.

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Vor diesem Hintergrund plädieren wir dafür, neuere Arbeiten um Tithi Bhattacharya, Susan Ferguson, Aaron Jaffe, Cinzia Arruzza und weitere zu diskutieren, da sie unseres Erachtens geeignete Ansätze darstellen, um kapitalistische Realitäten zu verstehen. Sie gehen von einem erweiterten Verständnis der Ökonomie aus, wodurch nicht nur die Vergeschlechtlichung und Rassifizierung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse sichtbar werden, sondern auch die sozialen Kämpfe für eine bessere soziale Versorgung als Teil von Klassenkämpfen gedeutet werden.

Eine widersprüchliche Beziehung

Karl Marx und Friedrich Engels analysierten das Verhältnis zwischen der Reproduktion des kapitalistischen Gesamtverhältnisses und der Reproduktion der individuellen Arbeiter*innen vor allem anhand der Konsumtion, also des Verbrauchs. Die Prozesse und die Arbeit, die nötig sind, damit die Arbeiter*in am Arbeitsplatz erscheint und über die Generationen hinweg ersetzt wird, bleiben unterbelichtet. Angesichts dessen haben marxistisch-feministische Analysen schon lange auf die Bedeutung der (häufig unbezahlten) »Frauenarbeit« hingewiesen. Und auch die SRT beschäftigt sich mit unter- und unentlohnter »Frauenarbeit«, setzt diese aber nicht mehr als analytischen Ausgangspunkt. Vielmehr fragt sie allgemeiner, wie und von wem die Arbeiter*innenklasse (re-)produziert wird.

Dabei wird auf die marxsche Beobachtung von der Arbeitskraft als »eigentümliche[r] Ware« Bezug genommen: Arbeitskraft wird zwar auf dem Arbeitsmarkt als Ware verkauft, aber sie ist die einzige Ware, die, zumindest teilweise, außerhalb des »circuit of commodity production« (Marx) produziert wird. Diese Reproduktion der Arbeiter*innen setzt die SRT als ihren Untersuchungsgegenstand und benennt sie als »social reproduction«. Diese findet eben nicht nur in »privaten Haushalten« und Familien statt, sondern umfasst auch die Aktivitäten zur Wiederherstellung des Lebens in Communitys, Vereinen und staatlichen Einrichtungen.

Die SRT versteht die Reproduktion der Arbeiter*innenklasse zusammen mit der Produktion von Waren und Dienstleistungen als »Teil eines einzigen ganzheitlichen Prozesses« (Meg Luxton): dem Kapitalismus. Damit ist die SRT ebenso wie die Theorien der marxistisch-feministischen Autonomen um Silvia Federici, der Bielefelder*innen um Maria Mies und Frigga Haugs den »umfassenden Theorien« zuzuordnen. Laut Nancy Fraser werden die strukturellen Unterschiede zwischen der Herstellung von Waren im privatwirtschaftlichen Bereich und der unbezahlten reproduktiven Arbeit nicht als zufällig, sondern als zentral für die kapitalistische Funktionsweise verstanden. Inspiriert von Rosa Luxemburg und den Bielefelder*innen argumentiert Fraser, dass Kapitalakkumulation nur dann funktionieren kann, wenn sie auf eine »nicht warenförmig organisierte« Sphäre zugreifen kann.

Im Einklang mit anderen feministischen und ökologischen Marxist*innen lautet die Analyse, dass die sogenannte ursprüngliche Akkumulation nicht ein historischer Sündenfall der Geschichte sei, wie Marx das beschrieb. Vielmehr beruhe die kapitalistische Wertschöpfung – neben der Ausbeutung im Lohnverhältnis – systematisch auf der fortlaufenden Enteignung und Aneignung von unbezahlter Arbeit marginalisierter Gruppen und der Natur. Bei diesen Enteignungen werden, wie Jason Moore darlegt, Gebrauchswerte, die »unter dem Durchschnitt der Wertzusammensetzung des Kapitals liegen« für das Kapital als Ressource freigesetzt, wodurch die Kosten aus Sicht des Kapitals gesenkt werden.

Die Trennung zwischen den Sphären der Produktion und Reproduktion ist nicht nur für den Kapitalismus unabdingbar, sondern in dieser spezifischen Form erst durch ihn entstanden: In vorkapitalistischen Gesellschaften bildete das Haus die produzierende Wirtschaftseinheit, in denen oft Frauen den Prozess des Spinnens, Webens, Seifensiedens und Backens überwachten. Dagegen wurden mit dem Aufkommen von Industrialisierung und Kapitalismus die Herstellung von Konsumgütern (Produktion) und »Tätigkeiten am Menschen« zur Herstellung von Leben (Reproduktion) räumlich und operativ getrennt. Diese Sphäre der Reproduktion bezeichnet Fraser als »Zonen der Nicht-Kommodifizierung«. Es entwickelte sich also ein Arrangement – in seiner Hochphase als »fordistischer Familienlohn« bekannt –, in dem ein Großteil der reproduktiven Arbeit »zu Hause« unbezahlt von »Hausfrauen« (oder bezahlt von Hausangestellten) verrichtet wurde.

Diese Trennung verschiebt sich mit der Neoliberalisierung. Hinzu kommt, dass Profite nicht nur mit Reproduktionsarbeit, sondern auch mit einer steigenden Kommerzialisierung und Finanzialisierung von »Reproduktionsmitteln« wie Wohnraum gemacht werden. Die Verschiebungen hin zur Kommerzialisierung im Bereich der Reproduktion beziehen sich also nicht nur auf Arbeit, sondern auch auf die Mittel und die Umgebung, mit und in der diese Reproduktion stattfindet.

Im Zusammenhang mit dieser Kommerzialisierung von Reproduktionsarbeit wird ein für die SRT zentraler Punkt deutlich: Der Kapitalismus ist nicht nur durch eine notwendige, sondern auch durch eine widersprüchliche Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion charakterisiert: Während Kapitalist*innen zwar auf die Reproduktion der Arbeiter*innenklasse angewiesen sind, führt die Notwendigkeit der Profitmaximierung dazu, diese Kosten zu drücken oder auszulagern, wodurch die Reproduktion permanent destabilisiert wird. Allerdings beschränken sich die Widersprüche nicht auf »Kapital versus Klasse«. Auch die Klasse des Kapitals ist widersprüchlichen Anreizstrukturen und Zwängen – zwischen Einzel- und Gesamtkapital und Kurzzeit- und Langzeitinteressen – ausgesetzt.

Beispielsweise können einzelne Kapitalist*innen Profite durch privatisierte Reproduktion machen (etwa in privatisierten Kitas, Pflegeheimen), während dies für das Gesamtkapital potenziell negative Auswirkungen bezüglich der Kosten für die Arbeitskraft hat. Der Staat übernimmt hier teilweise eine vermittelnde Rolle, wenn er Reproduktionsleistungen wie Kitas, Schulen und Pflegeheime bereitstellt. Die momentan zu beobachtende Kommerzialisierung von Reproduktionsarbeit und der Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen führen in diesem Zusammenhang zu einer Überlastung, zu »Time Poverty« und letztendlich zu einer »Care-Krise«. Diese Krise wird von der SRT als das Resultat aus dem Widerspruch zwischen der Profitlogik der Produktion und den stabilen Bedingungen der Reproduktion verstanden.

Insbesondere in Deutschland wurde der Begriff der sozialen Reproduktion wiederholt kritisiert. Für Frigga Haug etwa ist es ein Fehler, von sozialer anstatt von gesellschaftlicher Reproduktion zu sprechen. Reproduktion solle im marxschen Sinne auf den kapitalistischen Gesamtzusammenhang bezogen sein und nicht, wie in der SRT, allein auf die Reproduktion der Arbeitskraft. Dem möchten wir entgegnen, dass schon Marx und Engels die Reproduktion sowohl im weiteren Sinne als gesamtgesellschaftliche Reproduktion als auch im engeren Sinne als Reproduktion der Arbeiter*in verwendet haben. Die jeweilige Bedeutung kann lediglich dem entsprechenden Kontext entnommen werden (ausführlicher dazu siehe unseren »Prokla«-Artikel). Die von Haug vorgebrachte Befürchtung, dass die SRT die Spuren zu Marx verdecken würde, teilen wir daher nicht. Vielmehr wird die soziale Reproduktion im Sinne von Marx als ein fundamentaler Teil der übergeordneten gesellschaftlichen Reproduktion des kapitalistischen Gesamtverhältnisses verstanden. Während Marx aber insbesondere die Produktionsverhältnisse in den Blick nahm, will die SRT durch den Fokus auf die Prozesse zur Wiederherstellung des Lebens »das fehlende Buch zur Lohnarbeit« liefern und damit die Analyse des Kapitalismus vervollständigen.

Akkumulation und Unterdrückung

Die Hausarbeitsdebatte der 1960er und 1970er Jahre war davon geprägt, dass die Haus- und Sorgearbeit in der Familie nicht nur als Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern auch als Ursprung für die untergeordnete Stellung der Frauen verantwortlich gemacht wurde. Diese Annahme wurde in den USA von Schwarzen Feminist*innen wie Bell Hooks, Angela Davis und Patricia Hill Collins kritisiert: Die Charakterisierung der Familie als Unterdrückungssystem, in der Frauen eingesperrt seien, entspringe einer weißen Mittelschichtsperspektive und könne nicht verallgemeinert werden, da die Mehrzahl der Schwarzen Frauen in den USA stets einer Lohnarbeit nachgegangen seien. Außerdem sei die Familie – vor dem Hintergrund einer rassistischen Mehrheitsgesellschaft – ein elementares, potenziell mit Sicherheit und Humanität verbundenes Refugium, das auch zum Ort der politischen Organisierung werden könne. Darüber hinaus kritisierte beispielsweise Gloria Joseph die Verengung auf die »Frauenfrage«, die die Frage von Rassismus ausklammerte.

In diesem Zusammenhang bietet die SRT eine vielversprechende Perspektive, da die soziale Reproduktion nicht mehr auf die Familie reduziert, sondern stattdessen den Widerspruch zwischen den Sphären der Produktion und Reproduktion betrachtet sowie die damit verbundenen Anreize für die kapitalistische Klasse, die Reproduktionskosten zu drücken oder auszulagern. So werden zwar alle Arbeiter*innen entmenschlicht, doch zusätzlich wird die Arbeitskraft von Menschen entlang rassifizierender, vergeschlechtlichter und kolonialer Trennungen abgewertet. Wichtig ist hier, dass der theoretische Rahmen der SRT keine spezifischen Unterdrückungsformen voraussetzt, sondern diese als kontingente Antworten auf ein Strukturproblem der Kapitalakkumulation versteht. Die rassifizierende und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung wird also nicht reduktionistisch abgeleitet, sondern als Ergebnis einer historischen Entwicklung begriffen, die nicht statisch festgeschrieben ist.

Wie Unterdrückung als Strukturmerkmal des Kapitalismus analysiert werden kann, zeigt sich insbesondere anhand der sogenannten ursprünglichen Akkumulation. Wie bereits erwähnt, fußt der Kapitalismus – neben der Ausbeutung im Lohnarbeitsverhältnis – stets auf deren Fortsetzung. Nicht nur im Zuge des Kolonialismus und Imperialismus, sondern fortlaufend kommt es zu Enteignungen von Land, Tieren, Rohstoffen oder sogar Menschen. Wie Fraser betont, erfasst die Enteignung, die zugleich die Hintergrundbedingung der Ausbeutung ist, primär von Rassismus betroffene Subjekte. Die Frage, was als produktive und somit zu entlohnende Arbeit zählt, betrifft somit nicht nur die feminisierte Sorgearbeit, sondern geht laut Gargi Bhattacharya »den Praktiken der Ausdifferenzierung zur Ausbeutung und Enteignung auf den Grund, die den rassifizierten Kapitalismus prägen«.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich »Ausbeutung durch Unterdrückung« (Aaron Jaffe) ausdrückt, zeigt sich in der Organisation der Sorgearbeit, die seit der höheren Lohnerwerbsquote von Frauen im Globalen Norden sukzessive kommodifiziert wird. Tätigkeiten, die vorher »privat« im Haushalt stattfanden, werden nun als bezahlte soziale Dienstleistungen in ein »hierarchisches Wertesystem der Arbeit« eingeordnet, wobei nach Zhivka Valiavicharska in diesem Prozess »rassische, geschlechtliche und ethnische Unterschiede sowie der Einwanderungsstatus« mobilisiert werden. Vor allem migrantisierte Menschen gewährleisten hier die soziale Reproduktion, indem sie prekär und schlecht bezahlt als Putzkraft oder als Altenpfleger*in tätig sind. Die im Sinne der kapitalistischen Logik notwendige Abwertung der Reproduktion zeigt sich somit auch dann, wenn reproduktive Tätigkeiten nicht mehr »zu Hause«, sondern in Form von Lohnarbeit auf dem Markt organisiert werden. Hierbei spielen auch Migrationsregime eine zentrale Rolle, insofern sie die Reproduktion der Arbeitskraft durch den Zufluss an Arbeitskräften ermöglichen.

Klassenkämpfe in der Reproduktion

Mit ihrem Fokus auf die dialektische Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion setzt die SRT Impulse dafür, die klassische Frage nach der Klasse und ihren Kämpfen neu zu stellen. Dies wird auch durch die momentanen Entwicklungen dringlich: Auf die Wertschöpfungskrise der letzten Jahrzehnte wurde politisch mit Kommodifizierung sozialer Bereiche reagiert, wodurch es zu einer Aushöhlung der sozialen Daseinsvorsorge gekommen ist. Da zugleich Forderungen nach höheren Löhnen schwer durchsetzbar sind, zeigen sich Vertreter*innen der SRT überzeugt, dass Kämpfe verstärkt in der Sphäre der sozialen Reproduktion ausbrechen werden. Diese verstehen sie als (oft negierten) Teil von Klassenkämpfen.

Doch was hat es damit auf sich? Schließlich wird gemäß der marxistischen Tradition Klasse derart bestimmt, dass das Kapital die Produktionsmittel besitzt, während die Arbeiter*innen, um zu überleben, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Da die kapitalistische Landnahme die Grundlagen der Reproduktion gefährdet, ist dringend zu klären, inwiefern die Reproduktionsbedingungen als konstitutives Element in der Strukturierung von Klassen begriffen werden können. So hat die ursprüngliche Akkumulation durch die Enteignung der Produktions- und eben auch Reproduktionsmittel erst die abhängigen Lohnarbeiter*innen hervorgebracht.

Die Prozesse der Kommerzialisierung von Reproduktionsarbeit und der Privatisierung sozialer Leistungen setzen sich stetig fort, wodurch sie zu Waren werden, die sich nicht mehr alle leisten können. Zudem bedrohen der Raubbau an der Natur und die Klimakrise Lebensräume. Vor diesem Hintergrund plädiert Fraser dafür, unser Verständnis von Klassenkämpfen zu erweitern. Für sie zentral sind vor allem die sogenannten »Grenzkämpfe«, die um die Grenze zwischen der Sphäre der Produktion und der Reproduktion ringen – das heißt, welche Arbeit Mehrwert schaffen muss und welche nicht. Beispiele sind etwa die Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen«, aber auch die Debatte um die Kommodifizierung der Schwangerschaft angesichts von Eizellenspende und Leihmutterschaft. Für Fraser gehören diese Grenzkämpfe genauso emblematisch zum Kapitalismus wie die Kämpfe der Arbeiter*innen. Schlussendlich manifestieren sich also Klassenkämpfe in der Produktion, im Bereich der Reproduktion, und an der Grenze zwischen beiden Sphären.

Diese Unterscheidung meint keine Gleichsetzung, sondern soll vielmehr einen nuancierten Blick auf Klassenkämpfe eröffnen. Das Proletariat wird aufgrund der Stellung im Produktionsprozess gemeinhin als die »wirklich revolutionäre Klasse« (Marx/Engels) verstanden. Durch die Mehrwertaneignung in der »Sphäre der Produktion« können Arbeiter*innen, wenn sie für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen streiken, ökonomischen Druck und damit strukturelle Macht ausüben. Mit Blick auf die Mehrwertproduktion kann hier also bezüglich der Streikfähigkeit differenziert werden: In den Pflege- und Sozialberufen lässt sich schwerer streiken. Das liegt an dem Charakter der Arbeit, die vornehmlich eine Tätigkeit am Menschen ist, die wiederum wertschöpfungsschwach und kaum rationalisierbar ist. Infolge dieser – im Vergleich zur traditionellen Warenproduktion niedrigeren Produktivität – verfügen die Angestellten in Sozialberufen über eine geringere strukturelle Macht.

Noch schwieriger verhält es sich mit den Protesten um bessere Bedingungen der sozialen Reproduktion, etwa gegen zu hohe Mieten oder Klimawandel. Diese Gruppen verfügen über keinen ökonomischen Hebel. Dennoch kann das Terrain der sozialen Reproduktion als Ort der Klassenformierung dienen, wie Salar Mohandesi und Emma Teitelmann auf der Basis ihrer historischen Studie dargelegt haben: »Mietstreiks, Boykotte und Demonstrationen erforderten ein hohes Maß an Selbstorganisation. Selbstständigkeit und gegenseitige Hilfe hatten das Potenzial, Solidarität aufzubauen. Aktionen zur sozialen Reproduktion konnten nicht nur Kämpfe anderswo auslösen, sondern diese auch miteinander verbinden.« Auch aktuelle Studien zeigen in Bezug auf städtische Protestbewegungen, dass eine territoriale Verankerung und die Bereitstellung alternativer sozialer Ressourcen die Organisationsmacht stärkt und Prozesse der Kollektivierung fördert.

Die SRT rückt also als eine feministische Kritik der politischen Ökonomie und das Verhältnis von mehrwertschaffender Produktion und nicht mehrwertschaffender Reproduktion in den Blick. Dabei geht sie von einem grundlegenden Widerspruch zwischen der kapitalistischen Profitmaximierung einerseits und stabilen Bedingungen der Reproduktion andererseits aus – eine Perspektive, die Klassenkämpfe fruchtbar ergänzen kann.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels erschien in der aktuellen »Prokla« 214: Feministische Ökonomiekritik, 54. Jg., Heft 1, März 2024, 164 Seiten, Bertz + Fischer, 15 Euro.

Die Autorinnen

Irina Herb beschäftigt sich mit der politischen Ökonomie von sozialer Reproduktion. Zurzeit arbeitet sie an einer Dissertation zu marxistischen Perspektiven auf Reproduktionstechnologien an der Universität Jena.
Sarah Uhlmann ist Sozialwissenschaftlerin am Fachgebiet Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Lateinamerika der Universität Kassel. Ihre Forschungsthemen umfassen Stadt- und Raumsoziologie, soziale Bewegungen und politische Ökonomie.

Sorgearbeit im Kapitalismus – Social Reproduction Theory: Kapitalistische Widersprüche
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