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Neues Buch von Eribon: Das hat keine Zukunft
In »Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben« erzählt Didier Eribon von seiner Mutter. Dass hier wenig Neues wartet, ist schon die Diagnose
Der Streit, ob Identitätspolitik nun das neue Links sei oder doch eher sein Totengräber, insofern sich »Identität« als jene »Individualität« übersetzen lasse, aus der die Selbstvermarktwirtschaft gemacht ist – ist ja etwas abgeflaut, vielleicht auch darum, weil die Identitätslinke in Sachen Israel/Palästina keine allzu gute Figur abgegeben hat.
Wer immer sich nicht ausreden lassen wollte, dass Marx und woke einander noch dann nicht rundum ausschließen, wenn Identitätsbewegte Grün wählen, hätte schon in Didier Eribons Welterfolg »Rückkehr nach Reims« Unterstützung finden können, wo die Frage nach der Identität des schwulen Arbeitersohns, der zum bürgerlichen Intellektuellen avanciert ist, durchtränkt ist von der »Gewalt des Sozialen« als der Gewalt der Klassengesellschaft. Vielleicht, vermutet Eribon, der bei Marx so zu Hause ist wie bei Foucault, musste der Hauptwiderspruch erst einmal zur Seite treten, um über die Nebenwidersprüche wieder Kontur zu gewinnen, und vielleicht ist es sowieso verkehrt, die Widersprüche zu hierarchisieren: Als läge in der Idee von Hierarchie nicht der Hund immer schon begraben.
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»Rückkehr nach Reims« war auch in anderer Hinsicht das Buch zur Zeit: Als Memoir und Herkunftszeugnis, 13 Jahre vor dem Nobelpreis für Annie Ernaux erschienen, bediente es das Bedürfnis des Publikums nach Authentizität und funktionierte, wiewohl nominell ein Sachbuch, über seinen starken Ich-Erzähler, der empirisch und theoretisch für seinen Bericht zu bürgen versteht und das Doppelwesen, das er beschreibt, als Erzähler selbst verkörpert.
In Eribons neuem Buch »Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben« klappt das schon darum nicht so gut, weil die Hauptfigur nicht er selbst ist, sondern seine Mutter, die ihre letzten Monate in einem Alten- und Pflegeheim verbringt, wo sich ihre lebenslange Abhängig- und Unsichtbarkeit zur finalen Metapher verdichtet: Die Mutter stirbt, wie sie gelebt hat, arm und unglücklich, durch »strukturelle Misshandlung« und »institutionelle Gewalt«, und wenn Eribon wie der bravste Sozialdemokrat ausruft: »Das System ist unmoralisch«, muss er gar nicht aussprechen, dass das System hier bloß zu sich selbst kommt.
An dieser Stelle ist das Buch am stärksten. Wer lebt, ruft Eribon uns ins Gedächtnis, lebt darum, weil er eine Zukunft hat; wer keine Zukunft hat, lebt nicht. Das Altenheim als Verwahranstalt, so wie es scheint’s auch in Frankreich die Regel ist, ist also bereits der Tod, und zwar ganz konkret: Eribon beschreibt das »Syndrome du glissement«, den Verlust des Lebenswillens, wenn Menschen, sobald sie im Heim abgegeben sind, rapide an körperlicher und geistiger Beweglichkeit verlieren, die sie ja auch gar nicht mehr benötigen. Das ist noch kein Plädoyer gegen das Heim als solches, sondern gegen das unterfinanzierte, mit zu wenig Personal ausgestattete, schlimmstenfalls dem Profitdiktat unterworfene.
Das allerdings ist nun eben nichts Neues, und sosehr die Anlage von »Eine Arbeiterin« der »Rückkehr nach Reims« ähnelt – da war der proletarische Vater gestorben, hier stirbt die proletarische Mutter –, hat der Sohn im Wesentlichen die Probleme, die Kinder alter Eltern haben, das schlechte Gewissen inklusive, und jenseits vom Altersheim als Allegorie der Klassengewalt ist das auch theoretisch nicht mehr so umwerfend: »Die Familie als Institution und als emotionale Tatsache stellt also im Kopf und im Körper des Klassenwechslers einen Raum dar, in dem die Klasse, aus der man kommt, und die Klasse, in der man mittlerweile lebt, in Beziehung, Austausch und Konflikt zueinander treten.« Klingt gut, bedeutet aber nicht mehr, als dass man mit dem Cousin vom Bau anders spricht als mit dem Freund von der Uni.
Das Buch, um gewiss ein Viertel zu lang, erliegt dem Schicksal, dass kein Lektorat sich getraut hat, dem prominenten Autor die vielen Redundanzen und Nullsätze zu streichen: »Schließlich ist es einer der großen Vorzüge von Beziehungen zu uns nahestehenden Menschen (vor allem zu jenen, die uns am nächsten stehen), dass man gemeinsam schweigen kann. Denn dazu braucht es ein hohes Maß an Intimität und Vertrautheit.« Oder: »Es ist ein ehernes Gesetz der menschlichen Existenz, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann.« Oder: »Es ist nicht leicht, die unergründlichen Tiefen der sozialen Ordnung auszuloten.« Das wird so sein, aber mitunter ist es auch zu einfach, etwa wenn es darum geht, dass die Mutter Schundromane liest und nicht das, was der Sohn auf dem Nachttisch hat: »Sie war mit vierzehn von der Schule abgegangen und verfügte nicht über die nötige Vorbildung für eine solche Lektüre.«
Wer über die nötige Vorbildung verfügt, um Eribon überhaupt zur Hand zu nehmen, weiß da schon Bescheid. Doch der Autor holt aus, und die Weitschweifigkeit anzuzeigen ist natürlich ebenso ein Zeichen des Bildungsprivilegs: »Sie hatte nicht die Gelegenheit gehabt, die kulturellen und intellektuellen ›Dispositionen‹ zu erwerben, die es ihr ermöglicht hätten, sich für die Dinge zu interessieren, für die ich mich interessierte, Klassiker der Literatur oder Texte über Gewerkschaftsgeschichte zum Beispiel. Genau wie in Bezug auf Marx und Engels verstand es sich quasi von selbst, dass sie den Roman von Camus oder die Autobiografie von Sartre niemals aufschlagen würde. Ihr fehlten ...« – und noch einmal – »die schulischen und kulturellen ›Kompetenzen‹, die weder universell noch angeboren sind, sondern ein Privileg der herrschenden Klassen, das durch die Weitergabe von kulturellem Kapital in den Familien und im sozialen Umfeld sowie durch den Besuch bestimmter Schulen (solcher, die nicht ausschließlich auf handwerkliche und technische Berufe vorbereiten) reproduziert wird. Weder mein Vater noch meine Mutter noch irgendwer sonst in meiner Familie las Marx, das ist so selbstverständlich, dass sich die Feststellung eigentlich erübrigt.« Eigentlich schon, und man wird finden dürfen, dass der Soziologieprofessor Eribon, zumal der propädeutisch beseelte, dem biografischen Schriftsteller wiederholt im Weg steht; falls er ihm nicht zu Hilfe kommen muss, weil die Geschichte, die der Schriftsteller erzählt, von ihm selbst bereits erzählt worden ist, und zwar in jeder Hinsicht besser.
Das ist bloß ein schriftstellerischer Einwand, kein soziologischer, und dass Eribon das immer selbe patriarchale Dreieck aus Klasse – Körper – Geist abschreitet, ist natürlich schon die Diagnose. Am Schluss landet er wieder bei der Frage, wer für die spricht, die nicht selbst für sich sprechen können, sitzen sie nun im Altersheim oder in der Banlieue: Wie lässt sich aus dem Dilemma herausfinden, dass für die anderen sprechen wiederum heißt, Herrschaft über sie auszuüben? Zuklappen mag man »Eine Arbeiterin« mit dem Gedanken, dass jeder, der das Heim noch vor sich hat, dem Eribonschen Klassenflüchtling gleicht, der seinen Verrat damit bezahlen wird, dass ihn die Herkunft schließlich einholt. Und zwar nicht als Tod, wie er zum Leben gehört, sondern als Sterben, das ein Leben beendet, das ohne Zukunft war.
Didier Eribon: »Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben«, Suhrkamp, geb., 272 S., 25 €.
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