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Katz und Maus, Räuber und Gendarm
Das Tagebuch der Olga Benario – ein einzigartiger historischer Fund
Olga Benario, die junge Kommunistin, führt im Alter von 20 Jahren eine Gruppe junger Kommunisten an und befreit 1928 ihren Freund und Genossen Otto Braun aus dem Moabiter Kriminalgericht. Daraufhin muss sie nach Moskau fliehen und veröffentlicht dort ein Jahr später diese Schrift, in der sie ihre Erfahrungen mit kommunistischer Jugendarbeit in Berlin ausbreitet. Es ist eine Propagandaschrift, eine Kampfschrift, ein feuriges Dokument in glühenden Farben, nun erstmals ins Deutsche übertragen.
Berliner Schauplätze der Geschichte werden erwähnt. Das Karl-Liebknecht-Haus am Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz), »ein prachtvolles fünfstöckiges Gebäude«, schwärmt die 22-Jährige, darin das Zentralkomitee der KPD, die Redaktion der Parteizeitung »Rote Fahne«, Bezirksausschüsse, Jugendverbände. Immer wieder Neukölln, das größte Arbeiterviertel Berlins, »Klein Moskau« genannt. Die Bergstraße (Karl-Marx-Straße); »Kliems Festsäle«, Hasenheide 13, mit den größten Räumen Neuköllns, in denen 3000 Menschen zu Parteiversammlungen unterkommen konnten; eine Kneipe in Neukölln, Zietenstraße 29 (Werbellinstraße); Niederschöneweide, »ein Faschistennest«; eine Demonstration im Weddinger Schillerpark, »10 000 Menschen haben Platz«; Tagesausflug vom Bahnhof Neukölln in die Umgebung, zur Jugendherberge in Brieselang, Funktionärsschulung.
Katz und Maus in den Straßen Berlins, Räuber und Gendarm, politisch aufgeheizt. Klare Fronten, blutige Straßenkämpfe, Klassenkampf. Gegner sind leicht zu benennen und auszumachen, es sind alle, die nicht kommunistisch sind. Diktatur des Proletariats als Endstufe. Die Sozialdemokraten als Streikbrecher, Gehilfen der Bourgeoisie, im »täglichen Verrat an der Arbeiterklasse«, schreibt Olga Benario. Die fatale Parole sitzt und spaltet weiter: Sozialfaschisten!
Und dann der blutige Straßenkampf gegen die Faschisten. »Tatsächlich versuchen am Vorabend des Aufmarsches Faschisten mit Lastwagen durch Neukölln zu fahren. Aber sie kommen nicht weit! Bereits an der ersten Straße prasseln Blumentöpfe von Balkonen auf sie ein; Hausfrauen übergießen sie mit heißem Wasser. Mit Geschrei stürzen sich alle auf die Autos. Nur dem bewaffneten Eingreifen der Polizei ist es zu verdanken, dass es den Faschisten gelingt, mit heiler Haut davonzukommen.« Kommunistische Demonstrationen werden verboten – aber die Polizei schützt faschistische Aufmärsche. War das durchgängig die Realität am Ende der Weimarer Republik? Keine Erläuterung der Herausgeber.
Schließlich das Gefängnis in Moabit, Polizeipräsidium am Alex, politische Verfolgung. Alltag für die Genossen der Agitationskolonne. »Wir wissen, dass angesichts der Klassenjustiz Schweigen Gold ist«, schreibt Benario. »Spät abends bringt man uns wieder in eine Zelle. Fünf Schritte lang und drei breit. Ein vergittertes Fenster, Holzpritschen und ein kleiner Stuhl – das ist die gesamte Ausstattung. Ein Krug mit Wasser vervollständigt das malerische Bild. In der Tür befindet sich ein Spion, eine Öffnung, um die Gefangenen im Auge zu behalten. Aus der Ferne hallt der Großstadtlärm. Dort draußen sind Freunde, Genossen; du jedoch bist in den Fängen des Feindes geblieben. Entschlossenheit wächst in deinem Herzen. (…) Für uns alle ist das Gefängnis eine Hochschule für Kommunismus. Fleißig lernst du das Morsealphabet.«
Welche Erkenntnisse für die Gegenwart können aus diesen Aufzeichnungen gewonnen werden? Warum dieses Büchlein im Taschenformat? Als Zeitdokument, schön. Es sind nur wenige Originaltexte aus der kommunistischen Jugend Deutschlands überliefert, heißt es im Verlagstext. Gut. Aber sonst? Es weht der Hauch der Geschichte aus einer untergegangenen Zeit. Klassenkämpferische, revolutionäre Sprache. Die Organisation wird erläutert, Ortsgruppen, Betriebszellen, die Themensetzung. Kampagnen. Debatten, Agitation. Konkrete politische Arbeit. Mühsame Kärrnerarbeit. Die ewige Geldnot. Die Übermüdung.
Olga Benario wurde 1942 ermordet; sie galt in der DDR als Ikone des kommunistischen Widerstands, Opfer des Nationalsozialismus, Widerstandsheldin. Im Mai 2023 wurde vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in Neukölln, Innstraße 24/Ecke Donaustraße, ein Stolperstein verlegt. Doch im biografischen Standardwerk von Hermann Weber und Andreas Herbst »Deutsche Kommunisten« von 2004 gibt es für sie keinen eigenen Eintrag. Allein das macht die vorliegende Schrift notwendig. Deren besonderen Wert macht auch die Sprache aus, man fühlt sich in die Zeit zurückversetzt. Etwas mehr kommentierende Begleitung freilich nicht geschadet.
Olga Benario: Berliner Kommunistische Jugend.
A. d. Russ. v. Kristine Listau. Verbrecher-Verlag, 128 S., geb., 18 €.
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