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Film »Radical«: Stich ins Wespennest

In »Radical« versucht ein Lehrer das System Frontalunterricht zu durchbrechen und hat Erfolg

Die Pausenräume werden zum Klassenzimmer, das ist die Devise des egozentrischen Lehrers Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez, Mitte).
Die Pausenräume werden zum Klassenzimmer, das ist die Devise des egozentrischen Lehrers Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez, Mitte).

Anfangs unterscheiden sich die beiden Filme kaum: In dem einen, »Heroico«, der vor einem Jahr auf der Berlinale lief, geht es um eine Militärakademie in Mexiko, an der junge Kadetten abgerichtet werden, in dem anderen, »Radical – Eine Klasse für sich«, stehen Grundschüler*innen an einer mexikanischen Grundschule beim Morgenappell stramm und bekommen jeden Tag die gleichen Floskeln eingebimst: Ruhe ist die Grundlage für Gehorsamkeit, Gehorsamkeit ist die Grundlage für Disziplin und Disziplin ist die Grundlage des Lernens. In den Augen der Kinder und denen der Soldaten sieht man, dass sie schon am Anfang abgeschnallt haben. Der Geist ist für Durchhalteparolen wie diese nicht gemacht, er will frei sein, braucht Wärme und Anerkennung, um sich zu entfalten. Was hier stattdessen mit Menschen gemacht wird, ist die Abrichtung auf ein System, in dem nur der Stärkere überlebt. Das hat viel mit Mexiko, hat aber noch mehr mit dem Funktionieren in einer autoritären Leistungsgesellschaft im Allgemeinen zu tun. Wer akzeptiert, dass es nur so laufen kann, der stellt keine unangenehmen Fragen. Wer dann noch begreift, dass er es zu nichts bringen wird, wenn er nicht mitmacht, der ist mitten drin im Angstsystem der Performance-Diktatur – und die herrscht nicht nur in Mexiko.

Trotzdem ist »Radical – Eine Klasse für sich«, der neue Film von Christopher Zalla, ein zunächst ernüchternder Blick ins moderne Mexiko. Die Schule, an der der neue Lehrer Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez, vor zehn Jahren vom Magazin »Variety« zum einflussreichsten lateinamerikanischen Mann der Welt gekürt) anfängt, hat bei der letzten Abschlussprüfung die schwächsten Schüler*innen im ganzen Land hervorgebracht. Die vor geraumer Zeit angeschafften neuen Computer wurden prompt gestohlen, seit vier Jahren kümmert sich niemand um Ersatz. Den Einlass an der Schule kontrolliert die Polizei. In der Schulbibliothek ist das Anmeldeformular das einzig bedruckte Papier, das es gibt und die Lehrer*innen sind nur beim Wort »Motivationsprämie« dazu bereit, mal von der Kaffeetasse im Pausenraum aufzublicken, wenn der Rektor eine Rede hält.

Alles in allem also recht beschissene Voraussetzungen, um in Kindern Neugier und Freude am Lernen zu wecken. Noch dazu, wenn die Lebensumstände eigentlich von ihnen verlangen, so schnell es geht der Familie als Erwerbsquelle zur Verfügung zu stehen.

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Regisseur Zalla erzählt eine Geschichte, die sich so ähnlich wirklich zugetragen hat, denn eine Figur wie den Lehrer Sergio, der mit ungewöhnlichen Lehrmethoden den Geist seiner Schüler*innen zum Glühen bringt, den gibt es wirklich. Zalla wurde durch das Doppelporträt einer außergewöhnlich begabten Schülerin und ihres Lehrers im Magazin »Wired« auf den Stoff aufmerksam. Die 12-jährige Paloma Noyola Bueno wurde von der Computerzeitschrift als »der nächste Steve Jobs« betitelt, weil sie die höchste Punktzahl beim Mathe-Abschlusstest in ganz Mexiko erreichte, obwohl sie auf eine öffentliche Schule in einer der schäbigsten Städte des Landes ging. Ihr Lehrer, der echte Sergio Juárez Correa, hatte sich aus Verzweiflung über das mexikanische Schulsystem ein TED-Video zu einer neuen Lehrmethode angesehen, die, angelehnt an das dezentrale Lernen, Schüler*innen dazu motivieren soll, sich Wissen aus Eigenantrieb anzueignen und nicht, weil die Schule es in sie reinbämmern will, um am Ende gute Abschlussquoten und die nächste Förderung abzugreifen. Anhand seiner Youtube-Lektion versucht Correa also, das autoritäre Frontalsystem zu umgehen. Und es klappt. Sagenhafte 93 Prozent seiner Schüler*innen schafften den Abschluss in Mathe, wo vorher die Hälfte durchgefallen war, und zehn weitere Kinder seines Jahrgangs waren unter den besten ein Prozent in Mathe. Eine Erfolgsstory wie gemacht für einen Film.

Und wenn »Radical« ein Problem hat, dann nur dieses: Der Film widmet sich an manchen Stellen zu stark einem filmisch abgegriffenen Genie-Kult. Paloma (Jennifer Trejo), Tochter eines Müllsammlers, ist in der Lage, komplizierte Rechenaufgaben zu lösen, wie sie einst nur Carl Friedrich Gauss in ihrem Alter knacken konnte. Aus dem gesammelten Schrott auf der Müllhalde neben ihrer bescheidenen Hütte, in der sie mit ihrem kranken Vater lebt, konstruiert sie sich selbst ein Teleskop. Und so ist ihre Geschichte die, in die sich sowohl der Lehrer als auch die Zuschauer*innen emotional am intensivsten hineinziehen lassen sollen. Das ist doch sehr konstruiert und folgt dem üblichen Kalkül von Superbrain-Erzählungen. Wer arm und nur normal oder sogar kaum begabt ist, über den hat auch dieser Film wenig zu sagen.

Als Paloma am Tag der Abschlussprüfung als Letzte durchs Schultor kommt, atmet ihr Lehrer erleichtert auf, dabei hätte so viel Aufmerksamkeit auch die kleine Lupe (Mía Fernanda Solis) verdient, die sich aufgrund einer Berechnungsfrage (wie lassen sich 26 Menschen auf sechs Rettungsboote aufteilen) mit Morallehre und John Stuart Mill beschäftigt. Ob Mill der beste Ansatz ist, um zum richtigen Ergebnis zu kommen, sei dahingestellt, aber Lupe findet, dass es verboten sein sollte, mehr Tickets für eine Bootsfahrt zu verkaufen, als es Plätze in den Rettungsbooten gibt. Spätestens jetzt fragt man sich, warum nicht dieses Kind der Star des Films geworden ist. Aber logisch, Lupe muss sich, statt sich mit Philosophie zu beschäftigen, um ihr gerade erst geborenes Geschwisterchen kümmern, weil die Mutter wieder arbeiten geht, um die klamme Familie durchzubringen. Lupes Geschichte endet hier, während jemand wie Paloma ein Stipendium nach dem nächsten abgreifen wird und für die besseren Titelgeschichten taugt.

Davon abgesehen ist »Radical« ein klischeefreier Film über Ungerechtigkeiten und die Kraft von Idealismus geworden, was bei diesen Stichworten keine Selbstverständlichkeit ist. Sicherlich gibt die Geschichte vom ambitionierten Lehrer in einer längst abgeschriebenen Klasse wenig gestalterischen Spielraum her, aber den nutzt Zalla geschickt. Die elenden Verhältnisse in den Arbeitervierteln der Grenzstadt Matamoros schlachtet er nicht als Armutsporno aus. Mit Leichentüchern zugedeckte Opfer einer Bandenschießerei inszeniert er beiläufig, wenn er den Schulweg der Kinder zeigt, was so eine viel stärkere Kraft entfaltet, als jede krawallig aufgeplusterte Männer-mit-Goldketten-laden-kräftig-durch-Szene geschafft hätte. Super ist die Episode, in der die Klasse in einem Kreis sitzt und über Ethik diskutiert, während der Schulinspektor vorbeischaut. In einer Minute erfährt der Oberaufseher so alles, was man über die Tabuthemen Korruption, Abtreibung und Verhütung wissen muss, erklärt von Sechstklässlern.

»Radical«, der auf dem Sundance-Festival 2023 den Publikumspreis gewann, wird in manchen Besprechungen auch als Feel-Good-Film verkauft, was wohl daran liegen mag, dass, wenn man dem Film Böses unterstellen will, er eine Aufsteigergeschichte erzählt, aber das ist noch nicht mal die halbe Wahrheit. Eigentlich zeigt er, wie abgefuckt eine Welt ist, in der meistens gewinnt, wer am besten aufs Funktionieren abgerichtet ist.

»Radical – Eine Klasse für sich«, USA 2023. Regie: Christopher Zalla. Mit: Eugenio Derbez, Daniel Haddad, Jennifer Trejo. 122 Minuten, Start: 21.3.

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