Revolution der Systemrelevanten

»Held*innen auf die Barrikaden«: Malika Guellil über die Relevanz der Proteste von Pflegekräften

  • Gerd-Rüdiger Hoffmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Erinnern wir uns: Zu Corona-Zeiten war plötzlich von systemrelevanten Berufen die Rede. Und völlig gegen die Norm der marktgerechten Demokratie waren damit nicht Banker, Autobauer, Kohle- und Energiearbeiter, IT-Experten, Militärs oder gar Beamte gemeint. Gemeint waren Beschäftigte im Gesundheitswesen, in der Pflege, in Kindergärten, in Bildungseinrichtungen. Sie bekamen reichlich Beifall von Balkonen und viele Fotos in den Medien. Es war dennoch die Zeit der verpassten Gelegenheiten. Denn was wäre möglich gewesen, wenn die Systemrelevanten ihre tatsächliche Macht erkannt hätten? Es kann davon ausgegangen werden, dass kraft ihrer Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen auf Fürsorglichkeit ausgerichteten Gesellschaft diesen Berufsgruppen eine viel größere Macht zukommt, als gemeinhin angenommen.

Wie wirkmächtig Widerstandsaktivitäten der systemrelevanten Gesundheits- und Sozialberufe sein können, selbst dann, wenn sie zahlenmäßig viel geringer ausfallen als bei traditionellen Arbeiterprotesten, konnte nur geahnt werden. Malika Guellil zeigt, dass hier Feminismus gar nicht zusätzlich hineininterpretiert werden muss, sondern von vornherein nur feministisch und im Zusammenhang mit Klimagerechtigkeit gedacht werden kann. Malika Guellil trägt mit ihrer 2022 an der Wiener Universität verteidigten Masterarbeit über Care-Proteste, für die sie den nunmehr schon seit über 20 Jahren verliehenen Förderpreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin gewann, dazu bei, dass wesentliche Fragen gestellt werden, die Voraussetzung für die Suche nach richtigen Antworten, denen wiederum richtiges Handeln entspringen kann. Bereits das akademische Gutachten der Universität Wien stellte fest, »dass die Autorin der Untersuchung ihres Gegenstandes einen politischen ›Gebrauchswert‹ abringt und konkrete Handlungsvorschläge vorbringt«.

Der Autorin geht es um die Möglichkeit, aus vielen Protestaktionen eine Bewegung zu befördern, die grundlegende Veränderungen anstrebt. Empirische Einzelstudien wie auf einzelne Berufsgruppen beschränkte Protestaktionen sind nicht unwichtig, können jedoch kaum einen Beitrag zur Überwindung der gesamtgesellschaftlich, vom neoliberalen Kapitalismus charakterisierten Situation leisten. Auch die »klassischen« linken Theorieansätze taten sich oft schwer damit, ökologische, soziale, antirassistische, feministische, revolutionstheoretische und wirtschaftspolitische Ansätze als sich dialektisch verschränkende Teile eines komplexen Ganzen begreiflich zu machen. Wenn es die vielen einzelnen Protestaktionen lediglich in die Verkehrsmeldungen der Radiosender schaffen (»Wegen einer Demonstration auf dem Wiener Ring muss mit temporären Sperren und Zeitverlust gerechnet werden.«), dann deutet das darauf hin, dass es bis zu einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung noch ein weiter Weg ist. Ohne begründete und sinnlich nachvollziehbare Kapitalismuskritik, die aufs Ganze zielt, werden die wegen einer Demonstration von Care-Arbeiterinnen im Stau stehenden Strabag-Mitarbeiter Krankenschwestern oder Pflegekräfte kaum als Verbündete sehen. Die Vereinzelung, das Markenzeichen des gegenwärtigen Kapitalismus, wirkt.

Malika Guellil hatte ihre Masterarbeit bereits eingereicht, als das Buch »Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt« von Nancy Fraser erschien. Es lohnt sich, die zwei Bücher parallel zu lesen. In beiden geht es erkenntnistheoretisch darum, eine Sicht zu überwinden, die sich damit begnügt, die vorgegebene Welt lediglich abzubilden und damit meint, alles erklärt zu haben. Beide sehen ihre Aufgabe darin, die Kapitalismuskritik zu erweitern und alternative Perspektiven aufzuzeigen. Malika Guellil hat ihre Arbeit berufsbegleitend verfasst. Sie arbeitet in der Volkshilfe Wien, der Volkssolidarität in Deutschland vergleichbar. Der Praxisbezug ist im Text evident.

In origineller Weise bezieht sich Malika Guellil auf historische Vorläufer der Care-Debatte und auf aktuelle Diskussionen (Judith Butler, Nancy Fraser, Frigga Haug, Ulrike Knobloch, Oliver Marchart, Joan Tronto, Gabriele Winker und andere). Ebenfalls beeindruckend ist das Zusammenführen von empirischen Ergebnissen und theoretischer Arbeit auf der Grundlage der Diskursanalyse im Sinne der Essex-School, ihre Fortführung der Ansätze von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe mit dem Ziel, den in der klassischen marxistischen Theorie teilweise noch immer üblichen ökonomischen Reduktionismus zu überwinden, und ihre zeitgemäße Neuinterpretation von Antonio Gramscis Hegemoniekonzept.

Der Kerngedanke ist, dass revolutionäres Potenzial zur Veränderung der Gesellschaft sich erst dann entfalten kann, wenn entsprechende Konzepte oder Theorien den Bedürfnissen der Mehrheit nicht nur objektiv entsprechen, sondern auch als Ausdruck ihrer eigenen Erfahrungen wahrgenommen werden. So wie Malika Guellil die Erfahrungswelt der Care-Arbeiterinnen mit theoretischen Analysen zusammenbringt, wird die mögliche Bedeutung dieser Berufsgruppen im Rahmen einer antikapitalistischen Bewegung aus einer Perspektive sichtbar, die emotional und logisch gut nachvollziehbar ist.

Malika Guellil: Held*innen auf die Barrikaden. Care-Proteste als Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Transformationsstrategie. VSA, 124 S., br., 12,80 €.

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