Dr. Gora Parasit: Der Spiegel spricht noch

Am litauischen Nationaltheater Kaunas versucht sich die Regisseurin Dr. Gora Parasit mit »Schneewittchen« an der Ent- und Wiederverzauberung der Welt

Es war einmal: »Schneewittchen« am Nationaltheater Kaunas
Es war einmal: »Schneewittchen« am Nationaltheater Kaunas

Es ist ein schon lange währendes Missverständnis: Der alte deutsche Märchenschatz hat es zum Vorlesestoff für die Kleinsten gebracht. Blut, Sex und Verbrechen am Kinderbett. Mordversuche durch eifersüchtige Stiefmütter, Verbannung der eigenen Kinder, heimliche Besuche von Liebhabern, Operationen am offenen Bauch – vorgetragen als Gute-Nacht-Geschichte. Und dabei ist das, was die biederen Sprachwissenschaftler Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert zusammengetragen haben, doch nur die zensierte Version der Erzählungen, die in der Bevölkerung kursierten. Geblieben sind nur die Spuren der metaphernangereicherten, sexuell aufgeladenen Weisen in der kastrierten Volksliteratur.

So prangt neben der Ankündigung der Theateradaption von »Snieguolė«, wie Schneewittchen im Litauischen heißt, der Hinweis »18+«. Nein, mit Kindertheater haben wir es hier nicht zu tun. Wie schön aber, wenn Kunst noch so ernst genommen wird, dass Sittenwächter über die Zumutbarkeit für ein minderjähriges Publikum sinnieren. In Deutschland sind immerhin derartige Altersbeschränkungen im Theater nahezu unbekannt. Gleichwohl auch hier die Kunst mitunter zum Opfer der Prüderie wird.

Wir befinden uns in Kaunas, der alten Hauptstadt Litauens, die, ganz anders als der heutige Regierungssitz Vilnius, nicht mit barocken Eindrücken protzt, sondern vom gesamteuropäischen Modernismus – zwischen Art déco und Bauhaus – Zeugnis gibt. Das hiesige Nationaltheater, das älteste professionelle Theater des Landes, hat seine Spielstätte in dem ehemaligen Kino »Metropolitain«, einem Jugendstilgebäude, das – sozialistisch-realistisch renoviert – selbst Abbild einer wechselhaften Geschichte ist.

Als Regisseurin der gut zweistündigen »Schneewittchen«-Inszenierung konnte das Nationaltheater in Kaunas Dr. Gora Parasit gewinnen, die aus Litauen stammt, ihre Arbeitsumgebung aber frei wählt zwischen London und Berlin, Nordamerika und altem Europa. Nicht weniger frei wechselt sie zwischen Theater und Performance, Installationskunst und Fotografie. Gesetzt hingegen ist ihre markante, radikale Formensprache. Der visuelle Eindruck ist ungemein stark, ohne dass Klang und Bewegung, Sprache und Inhalt dahinter verloren gingen.

Den Grimm’schen Märchenstoff »Schneewittchen« reichert sie an mit mythischen Motiven aus aller Welt – und natürlich mit den Legenden der Gegenwart. Wie mit den Volksmärchen aus der Vergangenheit versuchen auch wir uns noch immer an der Realitätsbewältigung durch Erzählungen. Spieglein, Spieglein an der Wand.

Theater – Dr. Gora Parasit: Der Spiegel spricht noch

Der Theaterabend beginnt – weiß wie Schnee – mit einer Reise zu den Gletschern. Die unbeherrschbare Landschaft, selbst Ausgangspunkt zahlreicher Sagen, entzaubert sich im Anthropozän selbst: Die Gletscherschmelze macht uns alle zu Augenzeugen des Klimawandels. Die unbeherrschbare Landschaft wird vom Menschen wider Willen bezwungen. Und plötzlich wird nicht nur die Welt, sondern auch der Mensch kleiner, als er jemals war.

So übt die Inszenierung die Ent- und die Wiederverzauberung der Welt – und vice versa – mit dem Publikum ein und lässt es, geschult durch das Märchenhafte, im besten Fall aufgeklärt zurück. Schneewittchen kommt zur Welt, nicht durch den frommen Wunsch der Mutter, die mit der Geburt des Kindes stirbt, sondern mittels einer medizintechnologischen Maßnahme. Die letzten Rätsel und Wunder der Menschheit verschwinden und zurück bleibt die kaum erklärliche Gegenwart des modernen Menschen.

Wie die böse Königin in den Spiegel blickt, so sehen alle Darsteller in Dr. Gora Parasits Inszenierung auf das Publikum oder blicken in die Kamera, die die Spieler mittels Green-Screen-Technologie um die halbe Welt schickt und im Theater übergroß projiziert. Hier spricht jeder nur zu sich selbst und doch, schmerzhaft genug, zu dem Publikum. Es sind lauter Tschechow-Momente, die in der Märchenadaption aufscheinen: Kommunikation als Verschachtelung verschiedener Monologe. Alle reden – auf der Bühne auf Litauisch, Deutsch und Englisch –, aber nur scheinbar miteinander; der Adressat der eigenen Rede bleibt unklar.

Die Regisseurin ist vor allem eine herausragende Bildkomponistin. Tableaux vivants entstehen und lösen sich auf. Zitate aus Popkultur und Kunstgeschichte tauchen auf, ohne sich aufzudrängen. Die vorübergehende Erstarrung der Schauspieler, die Reihung von Bildern geraten auf paradoxe Weise dynamisch. Die szenische Kraft entsteht nicht zuletzt durch die elektronischen Klangwelten von Sandra Kazlauskaitė, die Atmosphären entstehen lassen, um sie in clubtaugliche Musik zu überführen.

Zur künstlerischen Handschrift von Dr. Gora Parasit gehören ihre Kostüme aus Latex, die mehr sind als ein bloßes Accessoire. Der konservative, nur durch Boulevard zu narkotisierende Zuschauer – und davon gibt es in Kaunas einige – nimmt selbstredend Anstoß an solchen Bühnendarbietungen. Sexuelle Motive sollten für ihn lieber märchenhaft versteckt bleiben.

Das hochartifizielle Kostümbild offenbart mehr als jedes andere Material die menschliche Natur. Stärker als in Parasits anderen Arbeiten wird in »Schneewittchen« das Spannungsverhältnis von Kunst, Künstlichkeit und menschlicher Natur deutlich. Durch die Fremdheit ihrer Kunstsprache und durch das Fantastische des Märchens kommt sie Fragen nach dem Menschsein erstaunlich nahe.

Nächste Vorstellungen: 6. und 7. April
www.dramosteatras.lt

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