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Carlos Fonseca: Was wir verlegen Wirklichkeit nennen

Kann man mit der Welt übereinkommen? »Austral«, ein Kunst- und Selbstfindungsroman von Carlos Fonseca

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Julio, der Held in Carlos Fonsecas Roman »Austral«, hat zwar ein wesentlich besseres Leben als die in Costa Rica gestrandeten Migranten, und doch hadert auch er mit seinem Schicksal.
Julio, der Held in Carlos Fonsecas Roman »Austral«, hat zwar ein wesentlich besseres Leben als die in Costa Rica gestrandeten Migranten, und doch hadert auch er mit seinem Schicksal.

Julio hat es geschafft. Als junger Mann entkam er mit einem Stipendium der Armut in Costa Rica. Während sein Bruder in die Bandenkriminalität abrutschte, promovierte er in den USA und erhielt dort eine Professur für Literaturwissenschaft. Wenn er auf die letzten 30 Jahre zurückblickt, verspürt er jedoch kein Glück, sondern einen Verlust. Was fehlt ihm? Es ist die Heimat, nach der er sich sehnt. Zwar wartet dort im Süden nichts und niemand auf ihn, zwar spricht er inzwischen besser Englisch als Spanisch, und doch wünscht er sich zurück. Seine Frau will davon nichts hören, nach einem Streit fliegt sie nach Frankreich zu ihrer Familie. So verbringt Julio alleine die Weihnachtsfeiertage und ein Brief platzt mitten in seine Identitätskrise. Darin heißt es, dass seine Jugendliebe, die Schriftstellerin Alicia Abravanel, gestorben ist. Und dass es ihr letzter Wille gewesen sei, dass er sich um die Herausgabe ihres letzten Manuskripts kümmert.

All das ist auf wenigen Seiten erzählt, für das Kommende nimmt sich Carlos Fonsecas Roman »Austral« dann aber Zeit. Für Julio ist es ein guter Anlass, die Routine in Michigan hinter sich zu lassen. Im Folgenden irrt er über den südamerikanischen Kontinent und parallel dazu lesend durch das rätselhafte Romanfragment. Alicia erzählt darin von einem Kontinuum der europäischen Faszination für Südamerika. Friedrich Nietzsches Schwester reiste einst mit ihrem Mann nach Übersee, um in Paraguay die Siedlung Nueva Germania zu gründen. Jahrzehnte später kommt wieder ein Mann aus Deutschland an diesen Ort, doch interessiert er sich nicht für die verbliebenen Deutschen, sondern für den letzten Indigenen eines Volks. Unbedingt will er seine Sprache bewahren und geht zugrunde daran, dass es ihm nicht gelingt. Auch Alicias Vater hat keinen Erfolg, also muss sie selbst nach Südamerika.

Hier trifft sich die Handlung mit der des Romans im Roman. Denn im Jahr 1982 verliebt sich Alicia dann in Julio, und bevor er aufbricht aus Costa Rica, fahren sie zusammen durch ein von Gewalt und Krisen zerrüttetes Südamerika. Alicia verfolgt mit dieser Reise eine Mission. Ihr Vorbild ist Regisseur Werner Herzog, der im Winter 1974 von München nach Paris wanderte, wo er seine Mentorin Lotte Eisner besuchen wollte, die schwer erkrankt war. Mit seiner Wallfahrt wollte er ihre Heilung herbeiführen. Ein magisches Denken wirkt hier wie dort, so, als könnte die Welt eine andere werden, wenn man sich nur in ihr bewegte.

Auch Alicia geht es um Heilung, wenigstens aber darum, das Leid der anderen anzuerkennen, sie in ihrem Schmerz zu sehen. Und wie Herzog ist sie Künstlerin, während ihr Begleiter nur ein angehender Literaturwissenschaftler ist. Nur? Ja, denn warum sonst sollte er den Roadtrip abbrechen, sich von Alicia trennen und in ein akademisches Leben flüchten? Doch sicher, weil ihm die letzte Entschlossenheit fehlt, der Mut, sich der baren Wirklichkeit zu stellen und sich diese anzuverwandeln. Und so bleibt ihm auch drei Jahrzehnte später nur die Kunst der anderen, um endlich zu Erkenntnissen zu gelangen, die dann aber durchaus tief gehen. Fonseca geht es in seinem dritten Roman um die Bestimmung dessen, was wir verlegen Wirklichkeit nennen, um ihren Bezug zur Sprache, um das Wesen der Vergangenheit und um die Frage, wie man gleichzeitig leben und sich erinnern kann.

Mitunter verhebt sich der Autor an seinen Themen, etwa wenn er literarische Tiefe mit der Bedeutungsschwere von Begriffen verwechselt. In seinem unbedingten Glauben an die Kunst und Literatur erweist sich der 1987 geborene Autor im Übrigen als Anhänger erstaunlich altmodischer Poetiken. Sicher würden sehr viele Schriftsteller seiner Generation ganz anders von dieser prägenden Reise erzählen. Und zwar als eine Geschichte über Anmaßung und Aneignung, in der eine versnobte Engländerin einem jungen Mann aus Costa Rica vorwirft, dass er keine Lust auf Elendstourismus verspürt.

Für identitätspolitische Belange aber hat Fonseca keinen Sinn, so wie es bei ihm auch nicht eigentlich um Politik geht, sondern nur um die direkten Auswirkungen der Macht: um die Gewalt, um die Vertreibung, um das Feuer, das ein ganzes Dorf verschlang. Und um die Möglichkeiten, sich wieder zu orientieren, ein Übereinkommen mit der Welt zu finden, ihr einen Platz abzuringen für sich selbst. Auch Julio findet wieder Halt, indem er sich entsinnt, was damals wirklich vor sich ging zwischen Alicia und ihm und was er mit ihr verloren gab. Die Literatur ist ihm ein Vehikel zur Befreiung und soll genau das auch für die Leserschaft sein. Reichlich pathetisch gerät diese Feier der Kunst mitunter, doch ringt es einem auch Respekt ab, mit welcher Selbstverständlichkeit der Autor sie auf den Thron hebt.

Carlos Fonseca: Austral. Wagenbach, 192 S., br., 22 €.

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