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Von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit
Zum Tod von Stefan Jerzy Zweig, dessen Geschichte Bruno Apitz in seinem Roman »Nackt unter Wölfen« verewigte
Man stelle sich vor: Da hat jemand knapp den mörderischen deutsch-faschistischen Antisemitismus überlebt und muss sich dafür vor Nachgeborenen entschuldigen. Nicht genug, dass auch er wie Millionen einstige Leidensgefährten von traumatischen Erinnerungen verfolgt wurde, sich wie Millionen andere Shoah-Überlebende fragte, warum er und nicht seine Angehörigen das Glück hatten, dem Vernichtungswahn der Nazis entkommen zu sein ... Nein, er wurde mit einem widerlichen, zynischen, pietätlosen, unmenschlichen Vorwurf konfrontiert, das Leben genießen zu können, weil statt seiner ein anderes Kind vergast wurde. Er verdanke sein Glück einem »Opfertausch«, dank der Gnade von »roten Kapos«, die schlimmer als die SS gewesen seien. So blökten Historiker und Schriftsteller, die es sich nach 1990 zur Aufgabe gemacht haben, einen antifaschistischen, kommunistischen »Mythos« zu dekonstruieren und delegitimieren und von allerlei Medien gern kolportiert wurden.
Stefan Jerzy Zweig ist daran fast zerbrochen. Und doch hat er sich tapfer zu wehren gewusst. Jedes Mal, wenn er in Berlin weilte, bei einem Prozess gegen die Verleumder und Geschichtsklitterer, zur Verteidigung seiner Ehre und damit zugleich die seiner Retter, schaute er auch in der Redaktion dieser Zeitung vorbei. Man sah es ihm an, wie sehr ihn die selbstherrlichen Behauptungen von historischen Ignoranten trafen, empörten, aufwühlten, verletzten. Er hat gewonnen, gegen den seinerzeitigen, aus Bielefeld stammenden Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Volkhard Knigge wie auch gegen Hans Joachim Schädlich, der ihm in seinem Roman »Anders« vorhielt, an einer kommunistischen Legende festzuhalten.
Geboren am 28. Januar 1941 in Krakau als Sohn des Rechtsanwalts Zacharias Zweig und dessen Frau Helena verbrachte er seine ersten drei Lebensjahre mit den Eltern und Schwester Sylwya im Ghetto und kam mit dem Vater Anfang August 1944, in einem Rucksack versteckt, nach Buchenwald, wo sich seiner der illegale Lagerwiderstand, namentlich die Häftlinge Willi Bleicher, Kapo der Effektenkammer, und Robert Siewert, Kapo beim Baukommando, annahmen, so weit es ging, zwei ehemalige Kommunisten, die übrigens nicht als linientreu galten. Ja, sie »korrigierten« Todeslisten. Das geschah auch andernorts ähnlich. Die illegalen Widerstandskämpfer werteten nicht Leben, sondern Überlebenschancen. Verzweifelte Menschlichkeit in der Höhle des Löwen. Auf der Liste des »Transports« nach Auschwitz, der am 25. September 1944 Buchenwald verließ, stand zunächst Jerzys Name, der dann durch den Namen des 16-jährigen Sinto Willy Blum ersetzt wurde. Dessen neunjähriger Bruder Rudolf stand auf der Liste und soll nach Berichten von Überlebenden aus Todesangst immer wieder nach dem Älteren gerufen haben, der sich dann entschloss, ihn auf der Fahrt ins Ungewisse zu begleiten ... Die Berliner Historikerin Annette Leo, Tochter des deutschen Résistancekämpfers Gerhard Leo, hat die Geschichte der ermordeten Puppenspielerfamilie Blum recherchiert und in ihrem Buch »Das Kind auf der Liste« insbesondere Willy ein Erinnerungsmal gesetzt.
Auch Jerzy verlor Mutter und Schwester in Auschwitz. Zacharias Zweig und sein Sohn erlebten die Selbstbefreiung des Lagers auf dem Ettersberg bei Weimar am 11. April 1945 und die Ankunft der US-Army kurz darauf. Nachdem Jerzy wegen Tuberkulose zunächst in der Schweiz behandelt werden musste, lebte er mit seinem Vater in Israel. Der Vater arbeitete im Finanzministerium, dere Sohn machte das Abitur, absolvierte den Wehrdienst und begann ein Mathematikstudium, das er später in Frankreich, in Lyon, fortsetzte. Vom Roman »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz (1958), in dem Jerzys Geschichte literarisch, mit (natürlich) fiktiven Elementen verarbeitet ist, verfilmt durch Frank Beyer (1963), erfuhren Vater und Sohn erst, als Journalisten der (Ostberliner) »BZ am Abend« nach dem echten »Stefan Cyliak« suchten. Charlotte Holzer, eine überlebende Angehörige der jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe um Herbert und Marianne Baum, konnte über ihren Schwiegersohn die Adresse der Zweigs in Tel Aviv erfahren. Zacharias Zweig schrieb ihr, nachdem er nun vom Roman wusste: »Ja, so war es, nie hätte ich gedacht, dass das alles noch einmal so zum Leben gebracht wird.«
Kurz darauf feierte Jerzy seinen 23. Geburtstag in Stuttgart bei seinem Retter Willi Bleicher, nunmehr Sozialdemokrat und Vorsitzender der baden-württembergischen IG Metall, um dann Anfang Februar 1964 in der DDR auch Robert Siewert kennenzulernen, den zweiten wichtigen Mann seiner Rettung. Und natürlich Bruno Apitz. Jerzy konnte Kameraman an der Babelsberger Filmhochschule studieren, kam aber mit dem Leben in der DDR nicht zurecht, übersiedelte mit Frau und Sohn nach Wien, wo er für den ORF arbeitete. Dort starb er nun, wie erst jetzt bekannt wurde, am 6. Februar im Alter von 83 Jahren.
»Aus der Geschichte einer Rettung wurde die einer Beschützung auf Kosten des Lebens eines anderen Jungen, und somit in Wirklichkeit eine Geschichte über den Tod, ja sogar Mord. Es wurde daraus eine Geschichte über die Kollaboration von Kommunisten mit der SS – im Wesentlichen also ein totalitaristisches Märchen über die Gemeinsamkeiten faschistischer und kommunistischer Ideologien und Praktiken, wobei die mehr als offensichtliche Tatsache übersehen wurde, dass Kommunisten in Buchenwald Häftlinge waren – egal wie privilegiert, im relativen Sinne, die Stellung einiger von ihnen und wie zweifelhaft ihre Rolle in der Lager-Selbstverwaltung auch immer gewesen sein mag«, kommentierte der britische Historiker Bill Nive, Jahrgang 1956, die bundesdeutsche Diffamierungskampagne in seinem 2007 auf Deutsch erschienenen Buch »Das Buchenwaldkind«.
Mit dem Tod von Stefan Jerzy Zweig ist eine authentische Stimme gegen Revisionismus, alte und neue Rechte verstummt. Ein feinsinniger, feinfühliger, feingeistiger Mensch, der durchseelt war von humanistischen Werten, ist von uns gegangen. Es bleibt als sein Zeugnis unter anderem der von ihm 2005 neu herausgegebene Bericht seines Vaters für die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, die der Sohn mit eigenen Erinnerungen bereicherte und zu dem die österreichische Schriftstellerin Elfride Jelinek ein Nachwort beisteuerte: »Tränen allein genügen nicht«.
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