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Künstlerleid und Schaffenszwang
Klaus Bellin porträtiert in seinem Buch »Gegenwelten« Dichter wie Goethe, Gottfried Keller oder Theodor Fontane
Als Goethe 1814/15 den »West-Östlichen Divan« schreibt, ist er bereits Mitte 60. Inspiriert dazu hat ihn Marianne von Willemer, gerade Anfang 30, Schauspielerin und Tänzerin. Goethe zeigt sich im Liebesrausch gefangen, über 100 Gedichte entstehen in einem Jahr! Die junge Frau aber ist mit einem Bankier verheiratet, für Goethe eine unglückliche Konstellation, die bald Fluchtreflexe in ihm weckt.
Klaus Bellin registriert in seinem soeben im quartus-Verlag erschienenen Buch »Gegenwelten« wie ein Seismograf die Seelennot des kreativen Menschen. Über Goethes hastige Rückreise nach Weimar heißt es: »Das Sommermärchen ist zu Ende.« Goethe eile nun »unter tausend Rückerinnerungen«, wie er Marianne wissen lasse, »auf direktem Weg zurück nach Weimar, zu Frau und seiner Arbeit, dem Werk«.
Wohin auch sonst. Einer wie Goethe, der seinen ungestümen Erstling »Die Leiden des jungen Werther« längst zugunsten einer repräsentativen Klassiker-Sicherheit hinter sich gelassen hat, setzt seine privilegierte Existenz nicht wegen einer Verliebtheit aufs Spiel. Doch der in die Jahre gekommene Dichter leidet unter der Trennung nicht anders als ein junger Mann – dazu kommen noch erste Altersbeschwerden. Vor allem ist es die Gewissheit, dass viel mehr hinter als noch vor ihm liegt, die er nur schwer erträgt.
Klaus Bellin, Buchautor (über Kurt Tucholsky, Harry Graf Kessler) und langjähriger nd-Kritiker, der im kommenden Jahr 90 Jahre alt wird, braucht nur gut ein Dutzend Seiten, um anhand der Entstehung des »West-Östlichen Divans« dem Drama des alternden Goethe eine Kontur zu geben. Vom »Divan« wurden übrigens nur wenige Hundert Exemplare abgesetzt.
Goethe bildet den Auftakt dieser Umschau unter Dichtern des 19. Jahrhunderts. Deren Leben mit all den Krisen und Tiefschlägen scheint oft gar nicht zum Glanz der Überlieferung zu passen. Auf eindrückliche Weise wendet sich Klaus Bellin dem scheinbar Marginalen zu, weit mehr, als es eine akademisch geprägte Literaturkritik für statthaft hält. Aber nur so kommt uns der Mensch nahe, der nicht selten erst aus äußerem Mangel und innerer Not schöpferisch wird.
Der zweite Text des Buches widmet sich August Goethe, dem traurigen Sohn des Dichters, der im Grunde sein Sekretär war. Immer gebraucht, aber vom Vater wenig gewürdigt und auf Distanz gehalten. Er starb 1830 in Rom während einer Italienreise, die er sich vom Vater förmlich erbettelt hatte. Goethes Schmerz über den Verlust des ihm fremd gebliebenen Sohnes hielt sich in Grenzen. Seine ganze Zuwendung galt ohnehin den beiden Enkeln Walther und Wolfgang, denen er sogar erlaubte, in seinem Arbeitszimmer zu spielen. Die höchst ungerechte Verteilung von Sympathien bleibt ein Mysterium.
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Essays über Dichter schreiben viele, aber nur sehr wenige berühren mit einem solch sicheren Instinkt die wunden Stellen der Dichterseele. Bei Bellin geschieht das so sacht, als wolle er deren Schmerz durch Verstehen lindern. So findet er etwa für des alten Goethe Besuch in Frankfurt am Main, seiner Geburtsstadt, das Leben aufschließende Bilder. Diese Miniaturen resultieren aus taktvoller Schonungslosigkeit, Diskrepanzen aufzeigender Diskretion. Etwa, wenn der Biograf Goethe an seinem Geburtshaus im Frankfurter Großen Hirschgraben vorbeikommen lässt, das längst anderen gehört. Genau in dem Moment schlägt drinnen die alte Standuhr, die dort stehen geblieben war, als die Familie auszog. Was macht man in solchen Momenten, wo ein ganz frischer Eindruck auf eine derart frühe Erinnerung trifft? Goethe jedenfalls beschleunigt seinen Schritt.
Über so unterschiedliche Autoren wie Schiller, Novalis, Kotzebue, Georg Forster, Rahel Varnhagen, Karoline von Günderrode, Annette von Droste-Hülshoff, Wilhelm Raabe kommen wir zu Gottfried Keller, der mit seinem berühmten Roman »Der grüne Heinrich« zutiefst haderte. Das Buch erschien in Fortsetzungen, drei Teile lagen schon vor, den vierten zu schreiben aber, konnte er sich nicht aufraffen. Sein Braunschweiger Verleger drohte, ihn als vertragsbrüchig zu verklagen, wenn er nicht liefere. Und so »schmiert« er den Roman, wie er in einem Brief bekennt, »buchstäblich unter Tränen« zu Ende. Es ist die Geschichte eines verhinderten Künstlers, der sich am Ende umbringt.
Der Roman wird bei seinem Erscheinen 1855 kein Erfolg. Bis auf einige Freunde, die ihn loben, bleibt die Resonanz aus. Immerhin gelingen ihm später, vor allem mit »Die Leute von Seldwyla«, noch erfolgreiche Bücher. Er selbst wird 1861 Erster Staatsschreiber des Kantons Zürich – und dann steht erneut die Frage, was aus dem »Grünen Heinrich« werden soll. Er arbeitet ihn um, seiner neu erworbenen Stellung entsprechend. Bellin: »Jetzt glättet er, tilgt das Unmittelbare, mildert auch die Drastik der ersten Fassung, löscht zeitkritische Ansichten über Schule, Staat und Kirche …« Auch bringt sich der Grüne Heinrich als gescheiterter Künstler nicht mehr um, sondern geht in die Kommunalpolitik (wie Keller selbst). Das passt zum Selbstverständnis seiner Schweizer Landsleute – und diese zweite, sehr viel schwächere Fassung, wird dann zum großen Erfolg.
Kein Groschenheftautor kann sich die Volten ausdenken, die Dichterleben durchziehen. Theodor Fontane etwa gehört zu denen, die sich immer wieder drehen und wenden, nur um weiter im Spiel zu bleiben. 1848 glühender Anhänger der Revolution, ist er kurz darauf Autor der reaktionären »Kreuzzeitung« und nimmt einen Posten bei der regierungsamtlichen Presseabteilung in Preußen an. Manch einer hält ihn nun für einen Zensor. Er verwischt erfolgreich seine Spuren, will heute nicht mehr als der erkannt werden, der er gestern noch war. Mit seinen Büchern hat er kaum Erfolg.
Und dann das schöpferische Wunder mit über 70, mit dem niemand mehr rechnete, er selbst wohl am wenigsten. Fontane schreibt jetzt noch 17 Romane, die man heute immer noch lesen kann (und sollte). Wie ist erklärbar, dass ihm plötzlich Figuren wie Effi Briest oder Jenny Treibel gelingen? Vielleicht liegt es daran, dass er im Alter aufhört, falsche Rücksichten zu nehmen, und einfach die Wahrheit schreibt, über Menschen, die in Verstrickungen geraten, aus denen sie sich nicht mehr befreien können.
Konsequenter waren andere, solche wie Adalbert Stifter, Autor des aus heutiger Sicht so modernen Buches »Der Nachsommer«, das Friedrich Nietzsche lobte, aber damit allein auf weiter Flur stand. Bellin lauscht dem Schlussakkord dieser glücklosen Existenz nach: »Zuletzt lebte er, ans Bett gefesselt, von Gram und Bitterkeit zerstört, mit rasender Geschwindigkeit bloß noch dem Rasiermesser entgegen.« Im Januar 1868 schneidet Stifter sich die Kehle durch.
Dank Bellins Porträtkunst kommen wir ihnen gefährlich nah, den erfolgreichen ebenso wie den erfolglosen Autoren. Auf ihre Weise sind sie alle gleich bewundernswert. Denn jenseits des äußeren Erfolgs, der reine Glückssache zu sein scheint, bewohnen sie ihre eigene »Gegenwelt«. Mehr und Höheres kann man im Leben wohl nicht erreichen.
Klaus Bellin: Gegenwelten. Dichter zwischen Goethe und Fontane, Quartus, 152 S., br., 14,90 €.
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