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»Auf trockenen Gräsern«: Vom Leben normal frustriert
Nuri Bilge Ceylan porträtiert in »Auf trockenen Gräsern« den Menschen in seiner ganzen Fehlbarkeit
Wenn irgendetwas unser abgerichtetes Leben so genau wie möglich charakterisieren sollte, dann ist es diese Szene aus Nuri Bilge Ceylans neuem Film »Auf trockenen Gräsern«: Der Lehrer Samet (Deniz Celiloğlu), der an einer Schule in der tiefsten ostanatolischen Provinz Kunst unterrichtet, fragt seine Schüler*innen, wer von ihnen schon einmal am Meer gewesen sei. Es melden sich nur vier Kinder. Als nächstes fragt er die Klasse, wer ihm fünf Meere benennen könne. Alle Arme gehen hoch. Warum diese vermeidlich banale Unterrichtsszene so bedeutungsvoll ist? Weil sie zeigt, wie eine Gesellschaft aussieht, die Menschen wie in einer Fabrik zu passgenauen Teilchen im System zurechtmontiert. Denen man aber nie zutrauen sollte, eigene Erfahrungen zu sammeln, geschweige denn, sie scheitern zu lassen und vom Leben selbst zu lernen. Wenn man das zuließe, würden sie zu viele Fragen stellen, statt morgens um acht Uhr irgendetwas in den Computer zu hacken.
Ein bisschen erinnert diese Schulszene auch an den fabelhaften Dialog, den Robin Williams als Psychiater Sean Maguire in »Good Will Hunting« hält: »Wenn ich dich frage, was du von Liebe hältst, dann wirst du mir wahrscheinlich ein Sonett zitieren, aber du hast nie eine Frau angesehen und hast dich komplett wehrlos gefühlt.«
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Und so geht es in Ceylans neuem Film eben um genau das, das große Ganze: Was ist das gute Leben und warum fällt es uns so schwer, es zu leben? Der Lehrer Samet ist dabei nur die Projektionsfläche für den normal abgestumpften Realisten: Er möchte ein guter Lehrer sein, will seine Schüler*innen zu mehr inspirieren und nicht Gehorsam durch Erniedrigung erzwingen, aber am Ende macht er es genauso wie alle anderen: Wenn die Kinder zu kindische Fragen stellen, wird er laut, wenn sie nicht sofort das Stillleben von der Tafel abmalen, das er ihnen vorgibt, erzählt er den jungen Menschen, dass sie auf ewig in ihrem Kaff versauern werden, um Kartoffeln anzupflanzen. Die Einöde hat ihn hart gemacht, obwohl man sich während der kompletten 197 Minuten (puh) nie sicher sein kann, dass Samet nicht von Natur aus ein Misanthrop ist, der Idealismus nur gerne mit schönen Worten in die Luft bläst, aber zu feige ist, danach zu handeln.
»Auf trockenen Gräsern«, der 2023 auf dem Filmfestival in Cannes lief, ist ein dreistündiger Film, der einem einiges an Aufmerksamkeit abverlangt, da zwischen den wunderschönen Landschaftsbildern fast pausenlos geredet wird. Mal Banales, viel Konfliktträchtiges und in einem grandiosen Dialog zwischen Samet und der faszinierenden Nuray (Merve Dizdar), in dem sie fast schon Proseminar-like über Verantwortungs- und Gesinnungsethik diskutieren (und man beiden die ganze Zeit an den Lippen klebt). Kurzum, diese epische Inszenierung ist alles andere als öder Arthouse-Quatsch, der sich selbst zu wichtig nimmt. Sondern »Auf trockenen Gräsern«, der sich eigentlich den türkischen Verhältnissen in der Peripherie widmet, erzählt auch eine ganze Menge Universelles über den Menschen an sich, man muss nur sehr lange durchhalten, aber das hat man ja mit dem eigenen Leben gemein.
Zentral ist die Figur des Lehrers Samet, die aber nur halb so gut funktionieren würde, gäbe es nicht seinen fast schon antagonistisch inszenierten Mitbewohner Kenan (Musab Ekici), der viel ruhiger und weniger menschenfeindlich gezeichnet ist. Beide verlieben sich auch noch in dieselbe Frau, die charismatische und auf eine leise Art superschlaue Nuray. Aber das ist nur eines der vielen Puzzleteile des Films, eines der vielen Vehikel, um aufzuzeigen, warum Menschen handeln, wie sie handeln.
Samet macht es einem, und das ist das Faszinierende an dem Charakter, sehr schwer, ihn zu mögen. Einerseits kann man nachvollziehen, dass ihn das Leben als quasi strafversetzter Lehrer (er muss einen Pflichtdienst im Osten des Landes ableisten) extrem anödet, weil es jegliche Energie aus seinem Körper zieht, da die Monotonie das alles bestimmende Element des Lebens in dieser kargen, aber wunderschönen Natur ist. Die Menschen fahren hier das Heu im Winter noch auf antiquarischen Holzschlitten von einem Ort zum anderen, auf der Hauptstraße sind mehr Hunde unterwegs als Menschen und die Tierarztpraxis ist gleichzeitig auch die örtliche Spelunke, in der man am Tisch sitzt und dusselig quatscht. Andererseits ist Samet viel zu oft nur auf den eigenen Vorteil bedacht und erweist sich im Verlaufe des Films als ein von Missgunst getriebener, vereinsamter Grummel, dem immer mehr das Zuversichtliche abhanden kommt.
Über allem schwebt die Gewissheit, dass er nach dem Ablauf seiner Dienstpflicht sowieso wieder in die Megametropole Istanbul verschwinden wird, in der er den heiligen Gral vermutet. In einem schönen Dialog pfeffert ihm Nuray (Merve Dizdar bekam für ihre Leistung in Cannes den Preis für die beste Hauptdarstellerin) seine fast nicht mehr zu ertragende Überheblichkeit um die Ohren und sie fragt, was er sich dort eigentlich erwarte, denn die Probleme zögen ja mit ihm um. Und die Probleme, mit denen sich Samets Seele herumschlägt, das wird im zweiten Drittel des Filmes klar, sind nicht die beklemmenden Dorfstrukturen, sondern das ist er selbst.
»Auf trockenen Gräsern« liefert an keinem Punkt eine zu Ende erzählte Handlung – mitten im Film tauchen noch Missbrauchsvorwürfe gegenüber Schülerinnen auf, was nicht komplett aufgeklärt wird –, vielmehr werden türkische Zustände (die allerdings auf den Menschen bezogen Allgemeingültigkeit besitzen) in Schnipseln verhandelt, die aber nie vage zusammengeschustert wirken, sondern ein nahezu ganzheitliches Bild vom Homo sapiens ergeben und das mit all seinem Optimismus, der Verletzlichkeit und Fehlbarkeit. Von Wärme und Gefühlen erzählt der Film fast nichts und das ist vielleicht das einzige Manko, oder eben auch das ernüchternde Fazit über ein Leben im Anthropozän.
»Auf trockenen Gräsern«: Türkei, Frankreich, Deutschland 2023. Regie: Nuri Bilge Ceylan. Mit: Merve Dizdar, Deniz Celiloğlu, Musab Ekici. 197 Minuten, Start: 16.5.
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