Die Letzte Generation im »alternativen Verfassungsschutzbericht«

Seit 1997 analysieren zehn Bürgerrechtsorganisationen im Grundrechte-Report jährlich die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Anders als das Grundgesetz ist er noch keine 75 Jahre alt: Der Grundrechte-Report wird seit 1997 von zehn Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben, darunter die Humanistische Union, der Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen und die Internationale Liga für Menschenrechte. Die Grundrechte bilden den Anfang des Grundgesetzes, welches – auch wenn es nicht so heißt – einer Verfassung entspricht. Deshalb bezeichnen die Herausgeber das Jahrbuch auch als »alternativen Verfassungsschutzbericht«.

Das Grundgesetz dient dem Report als Gliederung: Die Kapitel beziehen sich auf Artikel aus dem Grundgesetz, die immer zu Beginn zitiert werden. Meistens sind es dann Rechtsexpert*innen, die Fälle aus dem Vorjahr aufgreifen, in denen Grundrechte ihrer Ansicht nach gefährdet wurden. Diese Abschnitte gingen über bloße Beschreibungen hinaus, erklärte die Juristin Marie Volkmann am Mittwoch bei der Vorstellung der diesjährigen Ausgabe in Berlin. Die Autor*innen beziehen Stellung zu Entscheidungen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch Privatunternehmen. Dadurch könne der Grundrechte-Report eine »Brücke zum Aktivismus« schlagen, so Volkmann.

Dieses Jahr steht der Aufstieg rechter Parteien im Fokus – und die sich daraus ergebenden Auswirkungen, vor allem auf schutzsuchende Menschen. Vorgestellt wurde der Bericht vom ehemaligen Innenminister Gerhart Baum (FDP), der sich nach seiner parlamentarischen Karriere dem Schutz von Menschen- und Bürgerrechten widmete. Er würdigte den Grundrechte-Report als »wichtiges Korrektiv zur amtlichen Darstellung des Zustands unserer Demokratie«. Denn ein selbstkritischer Blick auf die Einhaltung der Grundrechte im eigenen Land sei nicht nur essenziell für die Glaubwürdigkeit einer Politik, die Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt kritisiert; er sei auch wichtig, um die Gefahren des »Einsickerns der Rechten in die Gesellschaft« offenzulegen.

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Doch man muss den Blick nicht nach Rechtsaußen wenden, um auf mögliche Gefährdungen der Grundrechte zu stoßen. Zwei Tage vor den großen Jubiläumsfeierlichkeiten zu 75 Jahren Grundgesetz erhob die Staatsanwaltschaft Neuruppin Anklage gegen fünf Mitglieder der Letzten Generation. Sie wirft ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor, nach Paragraf 129 im Strafgesetzbuch (StGB). Auch in München und Flensburg wird deshalb gegen Aktivist*innen der Letzten Generation ermittelt, zu einer Anklage ist es dort aber bislang nicht gekommen. Allein der Anfangsverdacht ermöglichte seit 2022 dutzende Hausdurchsuchungen, Gelder wurden beschlagnahmt und Telefongespräche monatelang abgehört.

Auf dieses Vorgehen beziehen sich die beiden Rechtsexperten Paul Madro und Philipp Schönberger in einem Kapitel des Grundrechte-Reports 2024. Die beiden Autoren kritisieren, dass nicht mehr der konkrete Akt des zivilen Ungehorsams – bei den Angeklagten geht es unter anderem um Sabotageaktionen an Öl- und Gaspipelines – verfolgt werde, sondern »die kollektive Entscheidung für zivilen Ungehorsam (…) als Form der Beteiligung am öffentlichen Diskurs«. Dabei sei gemeinsamer Protest ein Wesensmerkmal der Versammlungsfreiheit, die durch die Strafverfolgung einer angeblich kriminellen Vereinigung ausgehöhlt werde.

Klimaprotest werde so in die Nähe von organisierter Kriminalität gerückt und dadurch stigmatisiert und delegitimiert. Betroffen von der Verfolgung sind nämlich nicht nur die Angeklagten. Im Rahmen der Ermittlungen wurden auch Gespräche mit Journalist*innen abgehört und Adressen von etwa 5000 Unterstützenden von Fridays for Future beschlagnahmt. Der Paragraf 129 müsse dringend reformiert werden, fordern die Autoren deshalb.

Zumindest an diesem Mittwoch durften Klimaaktivist*innen von der Gruppe »Menschen gegen Öl« ihr Recht auf Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen: Als Reaktion auf die Anklage veranstalteten sie eine Kundgebung in Berlin.

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