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Das Unbehagen mit der Autotheorie
Die Gesellschaftsdiagnose aus der Ich-Perspektive wird zunehmend skeptisch betrachtet
Als 2016 die deutsche Übersetzung von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« erschien, war die linksliberale Öffentlichkeit hellauf begeistert. Eribon erzählte von der Entfremdung des Pariser Intellektuellen zu den Eltern des kleinstädtischen Arbeiter*innenmilieus, das seine politische Identität verloren hatte und schließlich rechts wählte. Seine persönlichen Beobachtungen verdichtete er zur Gesellschaftsdiagnose, die fortan durch Feuilleton und Podien zur Zukunft Europas und der Demokratie gereicht wurde. Eine ganze Konjunktur »neuer Klassenpolitik« hob auf Eribons Andeutung ab, die Linke habe die Arbeiterschaft verraten. Dieser entgegnete bescheiden, er habe nur ein Buch über seine Familie geschrieben.
Was an Eribons gewählter Theorieform so faszinierte, hat sich über die Jahre zum eigenständigen Genre der Autotheorie entwickelt, dem wissenschaftlichen Pendant zur literarischen Autofiktion: Die persönliche Erfahrungswelt des Subjekts wird zum Ausgangspunkt einer verallgemeinerbaren Weltdeutung, wenn etwa die Politische Theoretikerin Lea Ypi über ihr »Erwachsenwerden am Ende der Geschichte« oder der Soziologe Steffen Mau über sein »Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft« schreiben. Eine nahbare, bescheidene Theorie, die auch jene Leute »abholen« kann, die gerne auf Netflix die Lebensgeschichten ihrer Jugendidole erzählt bekommen oder Stars im Podcast beim freien Assoziieren lauschen.
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Mittlerweile weckt diese Attraktivität der »schwachen« Theorie jedoch auch Misstrauen. Jüngst attestierte etwa der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase in der »SZ« der Autotheorie die »unbegründete Neigung, Problemlagen des individuellen Mikrokosmos und des globalgesellschaftlichen Makrokosmos als zutiefst strukturverwandt aufzufassen«. Spoerhase stört daran vor allem, dass sich jene Diagnosen als persönliche Erfahrungen der allgemeinen Kritik entziehen. Es liegt aber grundlegend ein Problem darin, von sich auf die Welt zu schließen. Denn war es nicht so, dass unser Bewusstsein erst vom gesellschaftlichen Sein bestimmt wird?
Hauptsächlich stützt sich die Kritik der Autotheorie momentan auf das Buch »Immediacy« der Chicagoer Anglistikprofessorin Anna Kornbluh, die unter anderem darin den gesellschaftlichen Trend der Unmittelbarkeitsästhetik erkennt. Signatur des Katastrophenkapitalismus sei der unbedingte Drang zu intensiver und unvermittelter Erfahrung, weshalb sich in letzter Konsequenz eben auch das Denken gegen sein eigenes Medium der Theorie wende. Autotheorie ist für sie »Antitheorie«, weil darin die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft zugunsten einer unmittelbaren Erkenntniserfahrung aufgegeben wird.
Die kann es natürlich nicht geben und galt bereits bei Marx, Lukács bis Adorno zurecht als Fetisch, gegen den sie sich die Mühe der Theorie machen mussten. Und ja, das heutige Fehlen einer solchen Mühe ist wirklich ein Problem – allerdings nicht erst seit der Konjunktur der Autotheorie. Daher muss deren Kritik ehrlich zugeben: Sie hat gar keinen Gegenentwurf zur Hand.
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