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»Chowanschtschina«: Metaphysik der Gewalt
An der Staatsoper Unter den Linden wird mit Modest Mussorgskys »Chowanschtschina« von den Verlierern der Geschichte erzählt
Fürst Iwan Chowanski ist der Anführer der Strelitzen, die am Vorabend einen Aufstand gegen Peter, den minderjährigen Thronfolger des verstorbenen Zaren Iwan, und seine Familie durchgeführt haben. Dazu hatte Iwans Schwester Sofia sie animiert, die in Vertretung der minderjährigen Halbbrüder derzeit Regentin ist.
Fürst Andrei Chowanski, Iwans Sohn, liebt die Protestantin Emma, ein Mädchen aus dem »Deutschen Stadtviertel«, auf das allerdings auch sein Vater ein Auge geworfen hat, weswegen der Emma festnehmen lässt (nicht bevor Evelin Novak als Emma eine berührende Arie gesungen hat, ehe sie aus der Oper gänzlich verschwindet). Marfa, eine Altgläubige und die frühere Geliebte Andreis, hass-liebt diesen immer noch verzweifelt. Der Bojar Schaklowity denunziert derweil den angesehenen und vom Moskauer Volk unterstützten Fürst Iwan Chowanski. Dossifei, der Anführer der Altgläubigen, schlichtet den Streit zwischen Vater Iwan und Sohn Andrei Chowanski und bittet Marfa, Emma zu beschützen.
Fürst Golizyn, Oberbefehlshaber der Armee, die zuletzt Polen besiegt und die Macht der Bojaren gebrochen hat, ist Liebhaber der Regentin Sofia. Golizyn plant eigentlich mit Iwan Chowanski und Dossifei eine Verschwörung, aber Iwan zerstreitet sich mit Golizyn. Schaklowity, wie Golizyn Liebhaber Sofias, meldet den Verschwörern im Namen Sofias, dass der Hof von ihrer Verschwörung wisse, die Zar Peter als »die Sache Chowanski« (also »Chowanschtschina«) bezeichnet habe. Der Zar ordnet eine Untersuchung an.
Dies ist die privat-intrigante Ausgangslage. Alles klar soweit? Es scheint, als befänden wir uns hier in einem amourös-intriganten Boulevardstück, das eher in der Komödie am Kurfürstendamm spielen sollte – oder vielleicht in den Hinterzimmern des Berliner Senats? Aber gemach – denn bei Modest Mussorgsky kommt zu dieser Gemengelage nun der eigentliche Akteur der Oper hinzu, der leider weder am Kurfürstendamm noch im Roten Rathaus gewöhnlich eine allzu große Rolle spielt, nämlich: das Volk! Dargestellt vom fantastischen Staatsopernchor unter der Leitung von Dani Juris, singt das Volk in »Chowanschtschina« um sein Schicksal.
Diese Oper handelt vom Drama der Entfremdung zwischen Macht und Volk und wird gemeinhin als »Musikalisches Volksdrama« bezeichnet. Sigrid Neef hat in einem wichtigen Essay anlässlich der Aufführung an der Wiener Staatsoper 1989 darauf hingewiesen, dass eine treffendere Übersetzung des russischen »narodnaja musykalnaja drama« der Begriff »Volks-Musik-Drama« sein könnte.
Wie auch immer, klar ist: Mussorgsky lässt vor allem den Chor sprechen, er ist das zentrale Handlungselement seiner Oper. Das Volk! Die Menschen! Wobei die große Kunst Mussorgskys darin besteht, die verschiedenen musikalischen Charaktere des Volks scharf aufeinandertreffen beziehungsweise auseinanderdriften zu lassen. Sein Chor ist mal das »normale Volk«, das mit Golizyn Mitleid empfindet, mal stellt der Chor die aufständischen Strelitzen dar, die wüten und randalieren, unter denen jedoch, als sie von der sich nähernden Leibgarde Peters erfahren, Panik ausbricht.
Nicht zuletzt singt der Chor die Altgläubigen, die Raskolniki, die am Ende kollektiven Selbstmord auf dem Scheiterhaufen begehen. Dem Publikum wird klar: All die Widersprüche, die der Chor darstellt, gehören zur russischen Gesellschaft (und nicht nur zu dieser) – sie ist eben gleichzeitig von religiösem Fanatismus durchsetzt, wie sie zu derber Volkstümlichkeit oder zu Heroismus neigt oder einen starken Führer, einen »Auserwählten«, herbeisehnt. Das Volk wünscht sich Aufklärung und Modernisierung, wie sie der beliebte Golizyn vertritt, fügt sich aber zugleich den autoritären Herrschern der alten Ordnung und der Kirche. Chaos allenthalben.
Viele der Individuen im eingangs geschilderten Personentableau dieser Oper sind bestenfalls Charaktermasken: mitunter schrill überzeichnet wie die religiöse Fanatikerin Susanna oder die Strelitzenfrauen mit ihrem heulenden Glissando, mal in dumpfem Machtheroismus stehengeblieben wie Iwan Chowanski (ein großartiger Bass und eindrucksvoller Darsteller: Mika Kares), dann wieder eine tragisch Liebende wie Marfa, herausragend gesungen und dargestellt von der wunderbaren Marina Prudenskaya. Letztlich aber sind der Bojar Schaklowity (faszinierend intrigant: George Gagnidze), der wahre Politiker in diesem Personenreigen, und sein ideeller Gegenspieler, der Altgläubige Dossifei (sensationell: Taras Shtonda, Solist an der Kiewer Nationaloper), neben Marfa die großen Protagonisten der Oper.
Bei der ausnehmend gelungenen Inszenierung von Claus Guth an der Berliner Staatsoper Unter den Linden fällt auf, wie beziehungslos alle Figuren durch diese Oper, also durch ihr Dasein, durch die vorgegebene gesellschaftliche Konstellation stolpern. Ihre Triebkräfte neutralisieren sich. Ulrich Schreiber hat dies als »Ästhetik der Beziehungslosigkeit« bezeichnet und als eine frühe Vorwegnahme der »Lessness« interpretiert, die Samuel Beckett im 20. Jahrhundert entwickelt hat und die von John Cage oder Morton Feldman in der Musik umgesetzt wurde.
Einzelne Figuren repräsentieren bei Mussorgsky Kollektive, vor allem natürlich Dossifei; dann sind es wieder die chorischen Kollektive, die Ideen vertreten. Aber es gibt hier keine (nur) Guten und (nur) Bösen, die Situation ist vertrackt. »Schlafe, russisches Volk: / Der Feind schlummert nicht. / Ach du, heimatliches Russland, / mit deinem unglücklichen Schicksal! / Wer denn, wer rettet dich, / trauriges Land, vor bösem Unglück?«, singt Schaklowity im dritten Akt. Vieles ist Grausamkeit, alles ist Tragik und Leiden, nirgends ein Ausweg.
Mussorgsky hat von 1872 bis 1881 an diesem Stoff gearbeitet. Es ist wahrscheinlich, dass »Chowanschtschina« das Mittelstück einer Trilogie von Opern über die Geschichte Russlands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert werden sollte (mit »Boris Godunow« als deren erstem Teil) und das Ganze natürlich ein Abbild der russischen Gegenwart im ausgehenden 19. Jahrhundert. Allerdings hat Mussorgsky seine Oper nicht vollenden können, er hatte lediglich einen Klavierauszug mit vielen Instrumentierungsanweisungen hinterlassen, der von Rimski-Korsakow glattgebügelt wurde.
1939 begann Dmitri Schostakowitsch seine Arbeit an einer orchestrierten Neufassung, die 1960 im Leningrader Kirow-Theater Premiere hatte. Für diese Version mit ihren wunderbaren Klangfarben und lyrischen wie dramatischen Höhepunkten hat sich auch Simone Young entschieden, die die Berliner Staatskapelle leuchten lässt und das sensationelle Sänger*innenensemble stilsicher durch die schwierige Partitur führt und es jederzeit atmen lässt. Regisseur Claus Guth bekannte, er »kenne nur wenige Dirigenten, die so genau mit der Szene auf der Bühne atmen und wirklich am Theater interessiert sind«, und man kann ihm nur vorbehaltlos zustimmen (und sich fragen, warum Young in Berlin nicht häufiger als Dirigentin zu erleben ist). Vor allem aber brilliert der Staatsopernchor, der an diesem denkwürdigen Abend wohl der beste Opernchor der ganzen Welt ist.
Die Inszenierung ist erfreulich stringent. Guth bedient sich einer Videokamera, die die Protagonisten der Inszenierung mitunter im Hintergrund in Großaufnahme zeigt und das wilde Geschehen auf der Bühne noch plastischer erleben lässt. Er hat einige »Forscher*innen oder Archivar*innen« hinzuerfunden, die in aktueller Zeit das historische Geschehen begleiten. Damit verdeutlicht er, dass wir hier einer historischen und musikalischen Versuchsanordnung beiwohnen, wie sie ja eigentlich jede Opernaufführung darstellt.
Guth lässt das Bühnenpersonal glaubwürdig agieren und entscheidet sich mitunter für drastische, aber stimmige Szenen. So lässt er die vom Zar im letzten Moment begnadigten Strelitzen am Ende des vierten Akts im Dunkeln plötzlich massakrieren – der Regisseur hat sich genau mit der Musik beschäftigt, denn der die fis-Moll-Klage der Strelitzen kontrastierende, martialische As-Dur-Marsch der Truppen des Zaren (»con tutta forza« – mit aller Kraft – schrieb Mussorgsky in seine Partitur) lässt in der Tat nichts Gutes für die Aufständischen erwarten. Und am Ende des dritten Akts gelingt ihm ein Gänsehaut erzeugendes Bild, als die Strelitzen vor den Petrowschen Garden erzittern, der Chor um »Hilfe und Gnade« geradezu bettelt und die Szene mit einem leisen Paukenwirbel verklingt.
Natürlich gibt es auch einige wenige unstimmige Kleinigkeiten an der Inszenierung. Der Bezug auf Putins Machtzentrum, pantomimisch zu Beginn und am Ende der Oper in Szene gesetzt, gerät oberlehrerhaft. Da hätte man lieber nur der grandiosen Musik gelauscht: Der herrlich komponierten Morgendämmerung mit ihren Flöten- und Harfenklängen und dem Streichertremolo zu Beginn, bis »die aufgehende Sonne allmählich die ganze Bühne beleuchtet«, wie es in den Regieanweisungen Mussorgskys heißt, die Kremlglocken läuten und das dem Fürsten Andrei Chowanski zugeordnete Hornsignal die Handlung aufnehmen lässt.
Oder am Ende, als der Chor der Altgläubigen den kollektiven Suizid durch Selbstverbrennung vollzieht, dabei unisono in Oktaven phrygische Melismen singt, »die den Geist der alten Zeit und der Wahrheit atmen« (so Mussorgsky), ehe Strawinskys züngelnde und flammende Musik den selbstgewählten Untergang der Raskolniki darstellt, die Guth in Zeitlupe und mit nur angedeuteten Rottönen in den Bühnenuntergrund versinken lässt, bis schließlich eine sehnsuchtsvolle Trauermusik die letzten Gedanken des »Moskauer Volks«, »Unheil liegt über unserem Land«, aufnimmt und in ersterbendem F-Dur zu Ende bringt. Eine Szene, die so eindrucksvoll und suggestiv wirkt wie die zugehörige Musik.
Mussorgskys »Chowanschtschina« ist eine todtraurige Projektionsfläche unserer Zustände: eine Welt in Unordnung, ja fast im Chaos, und nirgends besteht Hoffnung. Eine Metaphysik der Gewalt. Das Beethovensche »per aspera ad astra«, durchs Dunkel zum Licht, wird von Mussorgsky zurückgenommen. Seine »Chowanschtschina«, eine Erzählung von den Verlierern der Geschichte, zieht den Bogen vom Sonnenaufgang, der hoffnungsvollen Morgendämmerung, zum lodernden Feuer des Scheiterhaufens im fünften Akt: Die Gegenaufklärung, die grausamen Herrscher haben gesiegt, für Marfas selbstzerstörerische Suche und für Moskau – das natürlich für die Welt als solche steht – gibt es keine Hoffnung. Mussorgsky plante von Anfang an das tragische Ende dieser Oper, die »Totenmesse der Liebenden«, wie er Marfas Requiem auf sich selbst nannte, die Bejahung der Selbstzerstörung.
»Gestorben aus Mangel an Hoffnung«, schrieb Heiner Müller über Georg Büchner. Und gestorben aus Mangel an Hoffnung, an vollständiger und trostloser Hoffnungslosigkeit, sind schließlich alle Protagonisten dieser aufrüttelnden und faszinierenden Oper. Die Sache Chowanski wird uns noch lange beschäftigen.
Nächste Vorstellungen: 6., 9. und 13. Juni
www.staatsoper-berlin.de
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