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Lanrue erzeugte gute Gefühle für den Aufstand

Gitarrist, Fußballer und Radikaler: Lanrue von Ton Steine Scherben ist tot

»Wir waren keine normale Band«, sagte Lanrue über Ton Steine Scherben.
»Wir waren keine normale Band«, sagte Lanrue über Ton Steine Scherben.

Die deutschen Glimmer-Twins hießen beide Ralph, aber sie wurden anders genannt: Rio und Lanrue. 1996 starb der eine in Fresenhagen mit 46, am vergangenen Sonntag der andere mit 74 in Berlin.

Rio war fünf Tage älter. Sie lernten sich als Jugendliche im südhessischen Ödland kennen, zwischen Darmstadt, Hanau, Frankfurt und Aschaffenburg, in einem Ort namens Nieder-Roden. Der eine lernte Fotograf, der andere Dekorateur. Damals hieß der eine Ralph schon Rio – ein Kumpel seiner älteren Brüder, die linkes Theater machten, hatte ihn so getauft: Rio de Galaxis. Er behielt den Vornamen, und der Nachname wurde der Name ihrer ersten gemeinsamen Band: De Galaxis.

Dann gingen sie zeitversetzt nach Westberlin und gründeten Ton Steine Scherben, eine Band für die Geschichtsbücher. Sie wollten so spielen wie Jagger/Richards, die Glimmer-Twins der Rolling Stones, schafften das nicht und waren dann 1970 die erste deutsche Punkband. Beinahe hätten sie »Schwarze Wolke« geheißen. Mit dem anderen Namen wurden sie eine der einflussreichsten deutschen Rockbands überhaupt, denn sie hatten musikalische und politische Energie.

Der Untergrundzeitschrift »883« erzählten sie: »Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient.« Ihre erste Single hieß »Macht kaputt, was euch kaputt macht« und vermittelte das Gefühl für einen Aufstand, so wie in den USA die Stooges und die MC 5. Um sie zu veröffentlichten, gründeten sie mit der David Volksmund Produktion das erste deutsche Indie-Label. »Wir waren keine normale Band«, sagte Lanrue später.

Er spielte Gitarre und Rio sang. Die Lieder schrieben sie gemeinsam, meistens machte Rio die Texte und Lanrue die Musik. Gestritten hätten sie sich darüber eigentlich nie, erzählte Lanrue in »Musik ist eine Waffe«, dem sehr guten Podcast zur Bandgeschichte.

Aus »König von Deutschland«, der 1994 erschienenen Autobiografie von Rio Reiser, merkt man sich eine regelmäßige Auseinandersetzung aus der Frühzeit: Rio rauchte Lucky Strike, Lanrue Ernte 23. Waren die Luckys alle, fragte Rio nach einer Ernte und bekam regelmäßig zu hören: »Kauf dir selber welche, dann weißte, wie die Preise sind.« Andere tiefgreifende Konflikte sind nicht bekannt, wohl aber zwischen der Band und den Brüdern Möbius, den Erben von Rio. Das führte dazu, dass die Scherben-Platten lange Zeit nicht mehr erhältlich waren.

1964 stand Lanrue mit Rio erstmals auf einer Bühne. Damals spielte Ersterer noch Drums. »Lanrue war ein sehr guter Schlagzeuger«, schreibt Rio, »denn er hatte den PSI-Faktor, traf auf Anhieb den richtigen Ton. Wem der Name Keith Moon was sagt, der weiß, was ich meine.« Später habe er dann zwei neue Vorbilder gehabt: Jimi Hendrix und Eric Clapton. »Etwas merkwürdig für einen Schlagzeuger. Hendrix und Clapton hatten die Gitarren zu Stimmen werden lassen.«

Das merkt man dann sukzessive auch bei Lanrues Gitarrenspiel. Zu Beginn ist es mehr Rhythmus- als Leadgitarre, ufert dann auf »Keine Macht für niemand«, dem zweiten Album, etwas bemüht-kunstfertig aus, um dann 1975 auf »Wenn die Nacht am tiefsten ...«, dem dritten und musikalisch besten Album der Band, gerade richtig zu klingen: federnd, funky und elegant. Eigentlich so wie auch Keith Richards ein Jahr später auf dem weithin unterschätzten Stones-Album »Black and Blue«.

Bevor er ihn kennenlernte, war Lanrue Rio schon aufgefallen, auf dem Bahnhof in Nieder-Roden, von wo er jeden Morgen nach Offenbach fuhr, zur Ausbildung im Fotografenstudio und Lanrue zur Dekorateurslehre. »Er kam immer zu spät und sah gut aus, hatte schwarze Locken und ein Harpo-Marx-Gesicht«, schreibt er in seiner Autobiografie und auch, dass er eine Art französisches Südhessisch sprach – das er nie ablegen sollte.

Lanrue, was eine Verballhornung von »de la rue« ist, hieß eigentlich Ralph Peter Steitz und war 1950 in Grenoble geboren, als Sohn eines deutsch-französischen Paares. Sein Vater hatte sich als deutscher Kriegsgefangener in eine Französin verliebt. 1963 mussten sie aus ihrer Wohnung raus; der Vater bekam einen Job in Südhessen als Anzeigenleiter bei der »Verpackungs-Rundschau« und sie zogen als sechsköpfige Familie nach Nieder-Roden, wo eine Tante wohnte.

Dort fing Lanrue mit dem Fußball an, den er vorher nur aus Comics kannte, denn in Frankreich hatte er Rugby gespielt, damals Nationalsport. Er war offensives Mittelfeld und so gut, dass er nach Frankfurt bestellt wurde, zum Sichtungslehrgang des DFB. Eine Fußballkarriere wäre durchaus drin gewesen, doch er ging mit Rio 1967 nach Westberlin.

Ein Grund war auch, dass sie dem Wehrdienst entfliehen wollten, Rio dem deutschen, Lanrue dem französischen. Später meinte er in einem »Taz«-Interview, als Fußballer habe man es »viel einfacher« denn als Musiker, weil man nur nach seinen Leistungen auf dem Platz beurteilt werde. Kaum wurde er als linker Musiker in Westberlin auf dem Ku’damm gesichtet, musste er sich gleich vor einem Plenum verantworten, was er denn zum Teufel auf dieser Konsummeile gewollt habe, erzählte er in dem Podcast über Ton Steine Scherben.

Fun-Fact: Nachdem die Band, unter anderem auch vor solchen Politkontrollansprüchen, Mitte der 70er aufs Land nach Nordfriesland geflohen war, spielte er recht rasch im lokalen Fußballverein. Er war Mitte 20, im besten Fußballeralter, und wurde sogar Torschützenkönig und »Spieler des Jahres«, ohne das jemand wusste, dass er in einer linksradikalen Band spielte.

Lanrue blieb in Fresenhagen wohnen, auch nachdem sich Ton Steine Scherben 1985 aufgelöst hatten, zusammen mit Rio, dem er anfänglich bei seiner Solokarriere half. Das letzte Mal stand er 1988 mit ihm gemeinsam auf der Bühne, als sie in Ostberlin in der Werner-Seelenbinder-Halle »Der Traum ist aus« spielten und der Saal emphatisch »Dieses Land ist es nicht!« mitsang.

Diese Platte war es leider auch nicht: Lanrues Soloalbum, auf dem Rio mitgewirkt hatte, konnte nie veröffentlicht werden, weil Rio nicht mehr Indie, sondern bei der CBS unter Vertrag war. An den diversen, meist kraftlosen Scherben-Ersatzbands hat sich Lanrue nie beteiligt, sondern zog zwei Jahre nach Rios Tod auf den Fóia, den höchsten Berg der Algarve, und baute Orangen und Zitronen an. Außerdem sichtete er die alten Bänder des Gesamtwerkes der Band, das 2006 als zehnteiliges Boxset herauskam. Doch bald fing der Streit um die Urheberrechte an.

Und dann wurde auch noch sein Anwesen in Portugal durch einen dieser Waldbrände zerstört, die man immer in den Nachrichten sieht, und er musste zurück nach Deutschland. Dort gründete er Ton Steine Scherben neu. Nur er hatte die Autorität dazu. Sie spielten fast in der Urbesetzung, erweitert um Musiker aus Lanrues Familie, mit Schwester, Tochter, Neffen. Und siehe und höre: Es war gut, ein bisschen wie »Die Beatles sind zurück«. Neue Lieder gab es nicht, aber ein altes, das sie seit Anfang der 70er nicht mehr gespielt hatten: »Macht kaputt«. Lanrue war der Meinung, die Zeit wäre wieder reif.

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