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Neuerscheinungen, annotiert: Von und über Fassbinder, May, Goetz und Schimmang
Fassbinder
Als Rainer Werner Fassbinder 1982 starb, wollte Ian Penman ein Buch über den besten bundesdeutschen Filmregisseur schreiben. Geschafft hat er es erst knapp 40 Jahre später, in der Pandemie. »Fassbinder« ist gleichermaßen ein Kaleidoskop der alten »Fassbundesrepublik« zwischen Paranoia und Provinz wie Sichtung biografischer Fragmente aus Penmans Alltags- und Kulturerleben. Für den britischen Popjournalisten war Fassbinder »queer vor seiner Zeit«, eine »Ein-Mann-Revolution« mit »bulligem Intellekt« und dem »›Mach es selber, mach es gleich, mach es schnell‹-Ethos, das Punk und Hippiebewegung eint«; einer, der fast alle seine Filme selber produzierte, schrieb, drehte und schnitt. In diesen »sitzt jedes Detail genau, wie in einem Buntglasfenster«, denn Fassbinder schuf sich »sein eigenes Hollywood« für die Etablierung des »Kinos als alternativer Heimstatt«: »Wenn es einen roten Faden gibt, der alle seine Filme verbindet (und die verletzten, missbrauchten, verdammten Figuren, die sie bevölkern) …, dann ist es das Gefühl, dass wirklich etwas nicht stimmt im Nachkriegsstaat Bundesrepublik Deutschland.« Fassbinder starb mit 37, gedreht hat er 43 Filme in nur 16 Jahren.
Ian Penman: Fassbinder. Tausende von Spiegeln. Suhrkamp, 254 S., br., 20 €.
May
Als Karl May schon berühmt war, schrieb er einer Leserin: »Sehr geehrtes Fräulein! Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2.9.1874. Er war noch herrlicher, als ich ihn beschreiben kann!« Bis heute versucht man, ihn der Lüge zu überführen, doch das fünfte von 14 Kindern, das als Hochstapler sieben Jahre im Gefängnis saß und dort begann, nach Landkarten und Lexika seine Romane zu schreiben, blieb immer dabei: »Das ist alles mehr als wahr.« Denn »es ist ihm geschehen. Er ist das. Er ist Kara Ben Nemsi, der Old Shatterhand ist, also: der Held«, schreiben Enis Maci und Mazlum Nergiz in ihrer Würdigung dieses Schriftstellers, den sie als Kinder nie gelesen haben. Die beiden Theaterdramatiker fragen sich, was unsere Gesellschaft mit ihm zu tun haben könnte: »In Mays Werken fehlt alles, was stört: Frauen, Staaten, Lohnarbeit. Trotzdem verletzt er sie nicht, die bürgerliche Ordnung, entwirft bloß einen Raum, der ohne sie auskommt. Der Wilde Westen als Ausnahme, der die Regel bestätigt. Die sie überhaupt erst legitimiert, dort, wo sie herrscht.«
Enis Maci/Mazlum Nergiz: Karl May. Suhrkamp, 160 S., br., 18 €.
Goetz
Wie soll man idealerweise Literatur schreiben? Rainald Goetz hat sich im Laufe seines 70-jährigen Lebens seine Gedanken gemacht: »Man muss im Zustand der HYSTERIE sein, um Texte schreiben zu können, die wirklich das sagen, was einem vorschwebt. Völlig überwertig besessen von Ideen, Worten, Konzepten, Details des Sprachlichen, den Feinstabwägungen von Ober- und Untertönen des Geschriebenen, nein, es klingt noch nicht genau so, wie es klingen sollte, irgendwas fehlt noch, was ist falsch, wo wird zu dick aufgetragen, zu penetrant insistiert, zu lange abgeschweift, wo wird zu poetisch verkürzt gesprochen, wo zu commonschaft alltäglich.« Das erzählte er im Februar 2023 im Wissenschaftskolleg in Berlin, zu finden in »wrong«, einem Sammelband mit mehr oder weniger poetologischen Texten aus den letzten 15 Jahren, von ihm »kleinere interventionistische Texte« genannt. Darin ist auch seine Dankesrede für den Büchner-Preis 2015, die er mit einem Zitat der Wiener Popgruppe Wanda enden ließ: »Wenn jemand fragt, wofür du stehst/ sag: für Amore, Amore«. Denn Goetz hasst »das Konzept der Coolheit«, wie er 2014 der damals gerade noch existenten Zeitschrift »de:bug« verriet, als er im Rückblick seine Münchner Rave- und Nachtlebenzeit in den 90ern so beschreibt: »Wir waren passionierte Afficionados, wir waren komplett uncool, allein, weil wir so haltlos begeistert waren für bestimmte Sachen.«
Und wie sieht es der Journalist? Goetz interviewte im Frühjahr den »Zeit«-Redakteur Moritz von Uslar, der ihm von seinen Zuständen erzählt, von »kompletten Überfordertgefühlen, dem Dagegenstemmen und dem noch etwas Hinkriegenwollen«, daraus entstehe dann »sozusagen Arbeit«. Allgemein gelte: »Die Steigerung von gutem Journalismus ist natürlich nicht Literatur«, sondern »sehr guter Journalismus«. Noch allgemeiner: Jedes Schreiben habe »eine masochistische Seite«. Goetz stimmt ihm in allem zu, nur nicht dem Gefühl des Masochismus: »Es gilt für mich eindeutig nicht.«
Auf der letzten Doppelseite von »wrong« sieht man Goetz in seinem Arbeitszimmer knien, irgendetwas lesen. Das ist der letzte freie Platz im Zimmer. Überall sonst sind Bücher, Blätter, Zeitschriften. nd
Rainald Goetz: wrong. Suhrkamp, 365 S., br., 24,70 €.
Schimmang
Der Schriftsteller Jochen Schimmang hält in »Abschied von den Diskursteilnehmern« fragmentarisch Rückschau auf seine eigene Geschichte und betrachtet glossenhaft die Dinge, die ihm in der Gegenwart wichtig erscheinen. Das ist eine kleinteilige, aber kurzweilige Methode, um mit den großen Problemen (Bewegungslinke, Intellektuelle, Aufrüstung) und Namen (Roland Barthes, Michel Foucault, Alberto Giacometti) irgendwie fertig zu werden - wie auch mit seinem lebenslangen Wunsch, »Franzose« zu sein, »gleich bereit, auf jede Äußerung mit dem passenden Apercu zu antworten, treffgenau, aber um Himmelswillen nicht brillant, geschmackssicher, aber nicht glänzend, die lange Geschichte des Landes im Rücken« und dazu einen »Pastis an einem Sommerabend um sieben Uhr vor einem Café in Arles ebenso wie in Cherbourg, eine bestimmte Art zu leben und auch zu sterben, wie es Fernand Braudel in seiner liebenden Trilogie L'identité de la France genannt hat«.
Jochen Schimmang: Abschied von den Diskursteilnehmern. Neue Geländegänge. Edition Nautilus, 120 S., geb., 20 €.
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