Die Mitte stand rechts

Wie kam es in Deutschland zum Faschismus? Dieser Frage wimdete sich der US-Historiker David E. Arns bereits in den frühen 70er Jahren

Das Handwerk, eine Stütze der deutschen Wirtschaft – und des Nationalsozialismus
Das Handwerk, eine Stütze der deutschen Wirtschaft – und des Nationalsozialismus

Restaurierte Fachwerkhäuser, Einkaufszonen und am Stadtrand ein kleiner See: Das ist der erste Eindruck von Pfungstadt. Ziemlich unspektaktulär. Weshalb also wählte der US-amerikanische Historiker David E. Arns gerade diese südhessische Kleinstadt für sein Forschungsprojekt, bei dem er untersuchte, wie sich der NS-Faschismus in Deutschland etablieren konnte?

Ein Grund sind die verwandtschaftlichen Beziehungen des Autors. Seine Ehefrau Gudrun Kahl stammt aus einer bekannten, bürgerlichen Pfungstädter Familie und öffnete Arns so manche Tür zu Menschen in der Stadt, die ihm von der Entwicklung in den späten 1920er und frühen 30er Jahren berichten konnten. Der zweite Grund liegt bei Arns’ Doktorvater William Sheridan Allen, der bereits 1965 ein Buch über den Weg der niedersächsischen Stadt Northeim in den Nationalsozialismus verfasst hatte; auch diese Arbeit erschien kürzlich, unter dem Titel »Das haben wir nicht gewollt – die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930«. Allen hatte 1965 nicht nur die Namen aller Protagonist*innen anonymisieren müssen, sondern auch den Namen der Stadt geändert. Aus Northeim wurde Thalburg.

Forschung im Tauchgang

20 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes waren überall in der BRD ehemalige Nazis – noch oder wieder – in wichtigen Positionen; sie wollten die Vergangenheit beschweigen. Dies hatte sich trotz des globalen Aufbruchs von 1968 auch Anfang der 70er Jahre noch nicht wesentlich geändert. Hierin dürfte auch ein Grund dafür liegen, dass David E. Arns’ Arbeit über Pfungstadt, die sich methodisch an der Pionierarbeit seines Doktorvaters orientierte, nun erst sehr verspätet in deutscher Sprache erscheint. Heute kann bei der Veröffentlichung von Arns’ Buch endlich auf jede »Geheimsprache« verzichtet werden; nicht nur der Ort, sondern auch die handelnden Personen tauchen unter ihren Klarnamen auf.

Den Gegenstand seiner Forschung beschreibt Arns zu Beginn des Buches folgendermaßen: »Pfungstadt ist eine kleine deutsche Stadt, die bisher in den Geschichtsbüchern weder in der Weimarer Republik noch während des Dritten Reiches Erwähnung gefunden hat. Basierend auf den Bemühungen von Menschen in Städten wie Pfungstadt ... errichteten die Mitglieder der NSDAP eine politische Struktur, die bis an die Spitze reichte, an der Adolf Hitler stand.« Beispielhaft arbeitet der Historiker an Pfungstadt heraus, wer den Nazis den Weg an die Macht ebnete: »Die Demokratie starb in Pfungstadt aufgrund der kurzsichtigen Sichtweise der Mittelschicht, einer Kurzsichtigkeit, die durch die scheinbar unlösbare Wirtschaftskrise verursacht wurde.«

Schleichende Faschisierung

Arns legt dar, wie die Faschisierung des Mittelstands in Pfungstadt schleichend beginnt. Zunächst hatte die Ortsgruppe der NSDAP keinen Einfluss auf die Politik der Stadt, aber das sollte sich 1928 ändern: »Die NSDAP sah ihr Hauptziel darin, die starke Position der Arbeiterschaft zu brechen. Sie vergaß den Mittelstand nicht.« So erschien etwa am 25. Januar 1928 im »Pfungstädter Anzeiger« ein Artikel mit der expliziten Überschrift »Mittelstand erhebe Dich«.

Die wirtschaftsnahen Organisationen pochten dem Autor zufolge zunächst auf ihre parteipolitische Neutralität. Ihre Hauptangriffspunkte waren aber von Beginn an die in SPD und KPD gespaltene Arbeiter*innenbewegung sowie die Gewerkschaften. Die Mittelständler polemisierten gegen zu hohe staatliche Ausgaben und beklagten die angeblich zu große steuerliche Belastung der Wirtschaft. Jeglicher Sozialpolitik sagten sie den Kampf an, besonders erwerbslose Menschen, deren Zahl stark zugenommen hatte, sollten zu Zwangsdiensten herangezogen werden.

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Das Buch macht anschaulich, wie eine nach ihren beiden Protagonisten »Steinmetz-Martin-Liste« genannte Pfungstädter Wähler*innengemeinschaft den Klassenkampf von oben immer mehr verschärfte. Die Mitglieder der Liste inszenierten sich als Stimme der wirtschaftlichen Vernunft im Widerstand gegen eine ideologiegetriebene Politik, die angeblich das Gemeinwohl schädige. Das war nicht allein eine Kampfansage an die beiden Flügel der Arbeiter*innenbewegung und die Gewerkschaften, sondern auch an die Organisierungsversuche von Erwerbslosen, deren Zahl nach 1930 im Zuge der Weltwirtschaftskrise sprunghaft stieg. Erst spät wurde klar, dass Steinmetz und Martin, die sich immer als ideologiefrei geriert hatten, längst mit der NSDAP kooperierten. Sie und ihre Freunde setzten nach 1933 die – ökonomisch vermittelte – NS-Herrschaft in Pfungstadt durch.

Wer hat uns verraten?

Aber auch das Agieren von SPD und KPD in Pfungstadt lag in Arns’ Forschungsinteresse. Dabei liegt seine Sympathie deutlich bei der SPD, während er die KPD an mehreren Stellen des »Dogmatismus« und einer »illusionären Politik« bezichtigt. Das mag in manchen Fällen begründet sein, in anderen Fällen wirft die Positionierung des Autors Fragen auf: etwa seine Kritik an den Gewerkschaften und der Erwerbslosenorganisation, wo diese nicht auf Mäßigung setzten, sondern radikalere Forderungen stellten. Die Politik nicht nach dem innerhalb des Kapitalismus real Umsetzbaren auszurichten, ist heute und war vor 90 Jahren eine völlig angemessene Klassenposition. Ziel der KPD-Politik war es eben nicht, den Kapitalismus mittels einiger Reformen vermeintlich zu bändigen. Vielmehr propagierten die Kommunist*innen Kampfforderungen, welche die revolutionäre Organisierung der Massen vorantreiben sollte.

Erwerbslose Menschen, deren Zahl stark zugenommen hatte, sollten zu Zwangsdiensten herangezogen werden.

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Aufschlussreich ist das Kapitel, in dem Arns beschreibt, dass Mitglieder von SPD und KPD an der Basis spontan zusammenarbeiteten, wenn die Nazis aufmarschieren wollten – trotz aller Spaltung in der Arbeiter*innenbewegung. Wie in anderen Städten, so funktionierte also auch in Pfungstadt eine antifaschistische Einheitsfront von unten. Noch am 5. März 1933, nachdem die NSDAP mit ihren deutschnationalen Bündnispartnern bei den schon von Naziterror bestimmten Wahlen eine Mehrheit im Reichstag gewonnen hatte, waren SPD, KPD und unorganisierte Antifaschist*innen in Pfungstadt zum Kampf gegen die Rechtsregierung entschlossen. So konnte das beabsichtige Hissen der Hakenkreuzfahne am Pfungstädter Rathaus noch einmal verhindern werden. Erst am 7. März gelang es den örtlichen Nazis mithilfe von auswärtigen SA-Kräften, ihr Banner doch an der Rathausspitze zu befestigen.

Zwischen diesen beiden Tagen im frühen März 1933 liegt die Niederlage der antifaschistischen Kräfte in der Stadt, für die Arns zufolge die SPD-Führung verantwortlich ist. Am Abend des 6. März warteten Mitglieder von SPD und KPD auf die Rückkehr eines Emissärs, der mit dem hessischen SPD-Politiker Wilhelm Leuschner über einen Aufruf zum Widerstand gegen die Nazis an der Macht verhandeln sollte. Arns schreibt: »Unter Tränen kehrte der Bote mit der traurigen Nachricht zurück, dass die obersten Stellen den Nazis keinen Widerstand leisten würden. ... Der Nazismus würde über eine träge Führung, über einen ausbleibenden Widerstand triumphieren.«

Düstere Aktualität

Dennoch wird im Buch deutlich, dass die organisierte Arbeiter*innenschaft – trotz ihrer parteipolitischen Spaltungen – der NS-Bewegung lange ablehnend gegenüberstand. »Die Verantwortung für den Triumph der Nazis in Pfungstadt trägt das Bürgertum, nicht die Arbeiterschaft«, betont Arns zum Ende seines Buches hin. Was der Historiker hier für eine südhessische Kleinstadt konstatiert, lässt sich verallgemeinern: Der Faschismus kann nur an die Macht kommen, wenn die organisierten Arbeiter*innen mit Unterstützung des Bürgertums demobilisiert sind oder niedergeschlagen werden.

Die deutschsprachige Veröffentlichung von »Der Weg in die NS-Diktatur« ist mithin eine späte Würdigung des Autors und Historikers David E. Arns, der bereits 1994 im Alter von 47 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb. Sein Bruder Robert Arns schrieb das Vorwort zur deutschen Übersetzung. Nicht möglich gewesen wäre die Publikation ohne das Engagement von Renate Dreesen, die sich seit Jahren um die Erforschung der jüdischen Geschichte in Pfungstadt verdient macht. Die Aktivistin der städtischen Initiative »Bunt ohne Braun – Bündnis gegen Rechts« schreibt im Klappentext: »Für uns ist diese Arbeit die vor über 50 Jahren erstellt wurde, von unschätzbarem Wert und von erschütternder Aktualität. Leider wiederholt sich heute vieles, was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien.«

David E. Arns: Der Weg in die NS-Diktatur. Die Geschichte von Pfungstadt 1928 bis 1935. Die Buchmacherei, 268 S., 16 €.

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