- Kultur
- Nachruf
Wolfgang Rihm: Der romantische Provokateur
Klassik ohne Dogma: Der Komponist Wolfgang Rihm ist gestorben
Neue Musik mit großem N – das meint seit der Weimarer Republik die stete »Erneuerung des verbrauchten musikalischen Materials und der Musikempfindung«. So wird in der Negation der Negation der Vorgängergeneration (und so fort) alles immer wieder neu: nach einem altbewährten Muster der autonomen bürgerlichen Kunst.
Gemessen an seinem Erfolg, verwundert es also nicht, dass Wolfgang Rihm es vielen Kritiker*innen zu Lebzeiten nicht recht machen konnte. Während sich der Werkbegriff im Laufe seiner Karriere mehr und mehr auflöste, schrieb Rihm mit dem dazugehörigen Selbstbewusstsein Werk um Werk. Den Hardlinern war die Musik des 1952 geborenen Karlsruher Komponisten natürlich zu sehr Mainstream innerhalb der Nische, sodass die Frage, wie tonal seine Musik denn sei, mitunter absurde Züge bekam – als handele es sich bei Rihm gar nicht um avancierte Neue Musik, sondern um so etwas wie Neoklassik.
Auf andere wirkte der 1,92 Meter große Rihm beinahe wie eine staatstragende Instanz der (alten) Bundesrepublik oder mindestens wie ihr Hofkomponist, sodass Kulturstaatsministerin Claudia Roth ihn als »eine wahre Institution der Musikwelt« bezeichnete. Sein Verlag, die Universal Edition, nennt ihn gar einen »Composer for all Seasons« – und in der Tat begleiten solche Labels ihn schon seit Jahrzehnten.
Seinen großen Durchbruch feierte er 1974 bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem Orchesterstück mit Solostreichquartett »Morphonie« (bzw. mit dem Satz »Sektor IV«, der als einziger vollendet ist). Das gibt dann auch den musikalischen Gestus der weiteren Biografie vor: hochexpressive, frei-atonale Musik, tief bis existenziell im Ausdruck, bedeutungsvoll und symbolhaft, mit sich selbst identisch und ja, darin vielleicht wirklich so etwas wie eine romantische Provokation. Vor allem für die an serieller Musik geschulte Avantgarde, die in der stetigen Erweiterung des kompositorischen Materials Adornos »unbewusste Geschichtsschreibung« durch Kunst sehr bewusst nach vorne trieb.
1977 gibt das Festival mit dem Titel »Neue Einfachheit« dann auch der Schublade, die keine Kompositionsschule sein will, einen Namen. Weitere Schlagworte wie »Neue Subjektivität« oder sogar »Neotonalität« fallen. Rihm selbst konnte diese Bezeichnungen wegen ihres »regressiven Habitus« ohnehin nicht ausstehen und konterte in seinem Text »›Neue Einfachheit‹ – Aus- und Einfälle« aus dem gleichen Jahr mit »Neue Eindeutigkeit«.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Seine Generation knüpft natürlich durchaus an romantische Ausdrucksspektren an (deutlich etwa im Liederzyklus »Das Rot« von 1991 nach Texten von Karoline von Günderrode), an Prinzipien harmonischer Hierarchie und Spannung, was man im weitesten Sinn ja durchaus »klassisch« nennen könnte. Aber eben nicht traditionalistisch oder dogmatisch. Trotzdem wusste Rihm schon früh, so Biograf Frieder Reininghaus, dass er »klassisch« werde – und vielleicht endet mit diesem Bewusstsein nun endgültig eine Ära, in der man männliche Komponisten als Genies bezeichnet.
Schon Rihms erste Oper »Jakob Lenz«, die er im Alter von 25 Jahren schrieb, hält sich beharrlich im Repertoire, genauso »Die Hamletmaschine« von 1987 auf den berühmten Text von Heiner Müller, der schon zehn Jahre zuvor das Sprechtheater revolutioniert hatte – oder sein vielleicht bestes Musiktheater, »Die Eroberung von Mexiko« von 1992. Die beiden letztgenannten Stücke heißen zwar Musiktheater und nicht Oper, weil Rihm ausdrücklich nicht auf Literaturoper mit geschlossener Handlung hinauswill. Trotzdem haben sie in der Emphase, der unmittelbar-affektiven Kraft viel mit dem gemein, was Oper als gesellschaftspolitischer Gefühlskatalysator im 19. Jahrhundert war.
Rihm hat entgegen der Klischees von Neoromantik aber auch von der postmodernen Philosophie gelernt und kommt ideologiekritischer daher, als das die Zuschreibungen vermuten lassen. Das ist immer wieder so bei Rihm. Seine Stücke altern gut, und gerade sein Musiktheater ist erstaunlich gegenwärtig, wenn es etwa dem Kolonialismus den Finger in die Wunde legt oder die Autorität des (männlichen) Autors erst übersteigert und dann abschafft. Man tut Rihm also unrecht, wenn man ihn zu einem reaktionären Minimalisten reduziert.
Viele Kompositionen werden bleiben, zum Beispiel die Passionsvertonung »Deus Passus« aus dem Jahr 2000, die den einen eine kluge Antipassion war, die christliche Heilsgewissheiten ins Bodenlose aufreißt, den anderen zu politically correct, wieder anderen ein privatreligiöses Traditionsstück mit zu viel Bach-Referenzen. Kritik an Rihm as usual. Oder »Jagden und Formen«, ein Orchesterwerk, an dem Rihm seit Mitte der 90er Jahre in verschiedenen Versionen immer wieder arbeitete und das 2008 in seinen endgültigen »Zustand 08« kam – ein wilder Reigen, der mit zwei Sologeigen beginnt und sich dann immer weiter in eine große, rauschhafte Form bewegt.
Über die Jahre sind weit über 400, vermutlich sogar über 500 Werke zusammengekommen – alles handschriftlich komponiert (und vieles auch so publiziert). Damit ist Rihm nicht nur der erfolgreichste, sondern auch der vermutlich produktivste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene deutsche Komponist der Neuen Musik. Den romantischen Gestus hat man ihm in den letzten Jahren immer weniger übel genommen, vielleicht auch wegen seiner badischen Herzlichkeit. Die historischen Konflikte um Rihm werden sicherlich etwas damit zu tun haben, dass junge Komponist*innen heute unbeschwerter (aber noch längst nicht unbeschwert) aus der Bandbreite zeitgenössischer, subkultureller oder auch klassisch-romantischer Musik Individuallösungen entwickeln können.
Nun ist Wolfgang Rihm im Alter von 72 Jahren gestorben.
Kornelius Paede ist Chefdramaturg der Sparte Musiktheater am Staatstheater Kassel, wo in diesem Jahr eine Neuproduktion von Wolfgang Rihms Opus »Die Hamletmaschine« auf die Bühne kam.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.