»Gagarin«: Der letzte Mann auf dem Mond

Im Film »Gagarin« versucht Youri als einzig übrig gebliebener Bewohner, seine Plattenbau-Siedlung vor dem Abriss zu retten

Ground Control to Major Youri: Der Abriss naht!
Ground Control to Major Youri: Der Abriss naht!

Dieses Gefühl, kurz bevor man eine Wohnung, in der man Jahre oder Jahrzehnte gelebt hat, zum letzten Mal verlässt, ist etwas Besonderes. Halb traurig, halb erwartungsvoll, was kommen wird, verschließt man sein von Möbeln leer geräumtes Schneckenhaus, das bis oben hin vollgestopft mit Erinnerungen bleibt und zieht um in die nächste Behausung. Jedem Umzug wohnt ein Zauber inne. Romantischer Quatsch ist das. Heute zieht, zumindest in den Großstädten, keiner mehr freiwillig um. Man wird rausgeekelt, rausgeklagt, rausgeworfen, rausgemietzinst. Für die normalen Menschen unter uns, die ihre Wohnung verlassen müssen, gibt es keine Chance auf flauschige Sommerabende auf der Terrasse der neuen, größeren, schöneren Wohnung mehr. Wer seine alte Butze verlassen muss, für den beginnt der eiskalte Überlebenskampf, kein Aufbruch in einen aufregenden neuen Lebensabschnitt.

So geht es auch Youri (Alséni Bathily) in Fanny Liatards und Jérémy Trouilhs Langfilmdebüt »Gagarin«. Er lebt in der gleichnamigen Plattenbausiedlung in Ivry-sur-Seine, einer Vorstadt südöstlich von Paris, die es als »Cité Gagarine« wirklich gegeben hat und die in den 60er Jahren von der kommunistischen Stadtverwaltung genehmigt und gebaut wurde. Zur Einweihung erschien Juri Alexejewitsch Gagarin höchst persönlich.

Umso brutaler die Wirklichkeit auf ihn einprasselt, desto fantasievoller ist Youris Flucht in seine Raumkapsel, sein ehemaliges Zuhause.

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Der Film beginnt mit Videoaufnahmen seines Besuchs. Als wäre er Elvis, kreischten die Bewohner*innen Gagarin 1963 hysterisch entgegen, zwei Jahre nach seinem ersten Weltraumflug. Ähnlich wie in den Plattenbausiedlungen, die in der DDR entstanden, war der Wohnstandard für die Erstbezieher*innen purer Luxus. Es gab Aufzüge, ein eigenes Klo, warmes Wasser aus der Wand – und alles bezahlbar. Und am Allerwichtigsten: Der Professor lebte Tür an Tür mit dem Hausmeister. Fast so utopisch wie die noch sechs Jahre entfernte Mondlandung.

Auch Youris Eltern gehörten einst zu den Pionieren, die hier einzogen. Damals waren es hauptsächlich Arbeiter*innen aus den Magreb-Staaten. Aber die Zeit, in der Wohn-Ideen wie diese noch politische und gestalterische Mehrheiten fanden, ist lange her. Mittlerweile bröckelt der Putz von den Wänden, der Aufzug ist ständig kaputt und das Treppenlicht funktioniert genauso wenig. Eine Untersuchung hat ergeben: überall Asbest. Das endgültige Todesurteil für die Siedlung, die im Jahr 2019 tatsächlich plattgemacht wurde.

Und an diesem Punkt setzt die Handlung von »Gagarin« ein. In der Siedlung herrscht Aufregung, alle Mieter*innen sollen innerhalb von sechs Monaten ausziehen. Die meisten, viele mit Kindern, manche davon mit Behinderung, haben Angst vor der Zukunft. Wohin in einer der teuersten Städte der Welt? Andere wiederum sind froh, endlich aus diesem schäbigen Loch herauszukommen. Diese Ambivalenz zeigt »Gagarin« subtil, aber eindrücklich.

Aber Youri, dessen Leben nie außerhalb von »Gagarine« stattgefunden hat, will nicht so schnell aufgeben. Verzweifelt versucht er, als selbst ernannter Hausmeister mit kleinen Reparaturen den Wohnkomplex zumindest auf den zweit-neuesten Stand zu bringen, was die Energiesparqualität der Leuchtstoffröhren angeht. Die Menschen von der Bauaufsicht sollen nichts zu bemängeln haben. All seine niedlich renitenten Ambitionen bringen natürlich nichts, zu enorm ist die Vernachlässigung der Siedlung. Die Lady vom Amt bescheinigt dann auch genau das: Abriss!

»Gagarin« ist kein Sozialdrama, wie es Ken Loach drehen würde und nie so knallhart inszeniert wie Ladj Lys »Les Miserables« (2019) über rassistische Polizeigewalt in den Pariser Banlieus. Liatards und Trouilhs Arbeit, die auf einem Kurzfilm basiert, den die beiden über die ehemaligen Bewohner*innen der »Cité Gagarine« drehten, gibt sich in fein austarierter Dosierung dem magischen Realismus hin. Der echte Wohnkomplex, der fünf Jahre verwaist vor sich hin vegetierte, ist die ideale Kulisse, um Youris Träumen einen Raum zu geben, in denen er selbst als Kosmonaut durchs Weltall schwebt.

Umso brutaler die Wirklichkeit auf ihn einprasselt und erste Räumungstrupps durch die leer geräumten Wohnungen ziehen, desto fantasievoller ist Youris Flucht in seine Raumkapsel, sein ehemaliges Zuhause. Mit diversem Schrott beginnt er tatsächlich, seine einstige Wohnung zum Raumschiff umzubauen. Eine schöne Metapher für Youris Widerstandsgeist, denn er ist der Einzige, der in der Siedlung zurückbleibt. Zu sehr hängt er an dem, was die Menschen hier zusammenhielt.

»Gagarin« ist kein Sozialkitsch, aber die Kamera (Victor Seguin) erlaubt es sich, aus den klaustrophobisch nahen vier Wänden, die ein prekäres Leben begrenzen, ein eigenes kleines Universum für Youri zu basteln, das größer ist als sein Zimmer, der Hof und die schier endlosen Treppenhäuser.

Der junge Alséni Bathily ist als Youri eine erstaunliche Erscheinung. Mit der Körperlichkeit eines Baumstammes, schafft er mit seiner feinen, verträumten Mimik einen krassen Kontrast, der sich ja schon in dem roten Backsteinkoloss und seiner Bedeutung für die Bewohner*innen widerspiegelt (die Wohnung als Schutzraum).

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Einzig die Nebencharaktere sind in »Gagarin« ein bisschen zu drüber. Diana (Lyna Khoudri), eine Romni aus der benachbarten Wohnwagensiedlung, hätte genauso gut aus dem Wohnblock stammen können. Sie ist eine toughe Automechanikerin, die als Ergänzung zum zerbrechlichen Youri funktioniert; samt Liebesgeschichte. In einem Interview erzählen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh, dass es zwischen der echten Roma-Siedlung, die neben der »Cité Gagarine« existierte (und die ebenfalls abgerissen wurde) und den Bewohner*innen des Komplexes quasi keine Berührungspunkte gab, und so wirkt diese Verbindung auch reichlich konstruiert, inklusive umherschreiender Wohnwagensippe und Angst vorm patriarchalen Vater.

Die Freundschaft zwischen Youri und seinem Kumpel Houssam (Jamil McCraven) hingegen wäre größere Aufmerksamkeit wert gewesen, immerhin wird Houssam für Youri zu einer Art Ersatzfamilie, da Youris Mutter ihren Sohn hier zurückgelassen hat. Youri trägt als eigensinniger, fantasievoller Charakter den Film auch allein beziehungsweise ist der einzig wahre Ko-Star, wenn überhaupt, der Plattenbau.

»Gagarin«, der ursprünglich schon 2020 in Cannes gezeigt werden sollte, das wegen der Corona-Pandemie aber abgesagt wurde, ist eine Hommage an die gestapelten Wohnschachteln in ihrer Symmetrie, der Raufastertapetenästhetik, den Pressspantüren und Linoleumfußböden, eine Liebeserklärung an das vermeidliche Schmuddelkind: den Vorort jeder Großstadt. Dort, wo das Leben ist und nicht die geschäftstüchtige Einöde aus Sichtbeton und Glasfassade regiert.

»Gagarin«, Frankreich 2020. Regie und Drehbuch: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh. Mit: Alseni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven. 97 Min. Start: 15.8.

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