Her mit dem Meinungsführerschein!

Thomas Blum meint, Meinungen sind keine CO2-Zertifikate und gehören nicht inflationär rausgehauen

Heute schon meine Meinung gehört?
Heute schon meine Meinung gehört?

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht die sogenannte Meinungsfreiheit erheblich eingeschränkt werden sollte. Zum Wohle aller, versteht sich. Wobei der Begriff »eingeschränkt« einen falschen Eindruck vermittelt. Sagen wir besser: »nachjustiert«.

Glaubt man den kursierenden Umfragen, sind 44 Prozent der Deutschen der Meinung, dass es in Deutschland gegenwärtig »keine Meinungsfreiheit« gebe. Interessanterweise haben dieselben Deutschen allem Anschein nach aber die Freiheit, ihre Meinung in dieser Angelegenheit ungehindert in jedes Mikrofon zu sprechen, das ihnen vor die Nase gehalten wird. Jedenfalls gibt es hierzulande erkennbar keinen Mangel an Leuten, die ihren Überdruss am angeblichen Meinungsfreiheitsmangel rund um die Uhr frei herausposaunen, und zwar leider nicht nur auf Nachfrage. Unsere Gesellschaft leidet also tatsächlich an einem Meinungsüberangebot, an Meinungsüberproduktion.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Das Internet beispielsweise, im Speziellen dessen Kommentarbereiche, kann als eine einzige gigantische Deponie betrachtet werden, auf der sich Unmengen von unbrauchbaren und überzähligen Meinungen ansammeln. Häufig stammen diese von Personen, die gar nicht dafür qualifiziert sind, eine Meinung zu haben und diese mitzuteilen. (Jemand wie Dieter Nuhr würde es vermutlich eine »Depponie« nennen und dabei vielsagend mit den Augen zwinkern. (ekstatisches Gelächter des Studiopublikums, donnernder Applaus))

Das gleiche Problem haben wir bei öffentlichen Versammlungen: Meinungen, nach denen niemand gefragt hat, die niemand braucht. Meinungen vor allem, die auf keinen Kenntnissen beruhen und denen kein Wissen zugrunde liegt, die dafür aber umso aggressiver und enthemmter vorgetragen werden.

»Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!« In der Regel sind Leute, die keinerlei Scheu haben, solche und andere Quatschmeinungen öffentlich kundzutun, nicht meinungsfreiheitsreif, befinden sich, salopp gesprochen, auf einer Vorstufe des derzeitigen Standes der zivilisatorischen Entwicklung. Die Meinungsfreiheit ist ein Geschenk, das uns gegeben wurde, damit wir achtsam und verantwortungsvoll damit umgehen. Doch blicken wir der Wahrheit ins Auge: Nicht jeder, dem eine Knochensäge und ein Hackbeil in die Hand gedrückt wird, wird ein guter Metzger.

Um Auto fahren zu können, ist hierzulande eine Fahrerlaubnis vonnöten, zum Angeln ein Angelschein. Um Ärztin zu werden, benötigt man eine medizinische Fachausbildung, um Friseur zu werden, einen Meisterbrief. (In Anbetracht des Hitlerjugendhaarschnitts, der vom Großteil der deutschen Herrenfußball-Nationalmannschaft getragen wird, sollte übrigens jemand mal einen Blick auf den Meisterbrief des Zuständigen werfen.) Doch wer via Internet die Öffentlichkeit darüber aufklärt, dass die Erde eine Scheibe ist und Hitler in der Antarktis in einem Ufo lebt, oder uns mit erhobenem Zeigefinger mitteilt, dass die freie Marktwirtschaft nichts anderes im Sinn habe als das Wohlergehen der Menschen und die Schaffung des ewigen Paradieses auf Erden, benötigt dafür kein Zertifikat. Er oder sie muss nicht einmal lesen und schreiben können. Es reicht vollkommen aus, ein mitteilungsfreudiger, geldgeiler Fanatiker mit Minderwertigkeitskomplexen oder ein FDP-Funktionär zu sein (was ja im Grunde dasselbe ist).

Deshalb muss gefragt werden: Wird die Idee einer »Meinungsfreiheit für alle« nicht überschätzt? Ist sie nicht ein längst von der Zeit eingeholtes, seit Jahrzehnten nicht reformiertes Uralt-Grundrecht, das dringend überarbeitet (nachjustiert) werden müsste? Ein Relikt aus einer untergegangenen Ära, in der Menschen, die nur mit bescheidenem Wissen aufwarten konnten, noch die Klappe hielten?

Wer eine Meinung äußern möchte, für den sollte der Erwerb eines Meinungsäußerungsscheins, den er mitführen und jederzeit auf Verlangen vorzeigen können sollte, verpflichtend sein.

Alle anderen, die sich nicht qualifizieren konnten, sollten schweigen. Nun höre ich freilich schon die hysterischen Stimmen, die fälschlicherweise hier ein gesetzeswidriges Vorgehen wittern. Mit Verlaub: Das ist Unfug. Wer bewiesen hat, dass er kein Fahrzeug steuern kann, dem wird der Führerschein entzogen; wer behauptet, mit esoterischem Hokuspokus oder homöopathischen Mätzchen Krebs heilen zu können, dem wird die ärztliche Lizenz entzogen. Und wer dumm daherredet, hat nichts zu meinen.

Wer ausnahmsweise einmal ehrlich mit sich selbst und anderen ist, weiß: Wer von Politik, Geschichte, Kultur, Philosophie keine Ahnung hat, der braucht auch keine Meinungsfreiheit.

Wozu braucht ein Fußballfan, der mit Biertrinken, Johlen und Jubeln ausgelastet sein sollte, Meinungsfreiheit? Warum glaubt einer, der sich beim Schauen des »Glücksrads« auf RTL 2 intellektuell überfordert fühlt, unbedingt eine Meinung kundtun zu müssen?

Sicher ist jedenfalls: Für Leute wie beispielsweise Hubert Aiwanger wäre der Erwerb eines Meinungsäußerungsscheins ausgeschlossen.

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