»Gloria« im Kino: Die Musik der Befreiung

Die italienische Regisseurin Margherita Vicario lässt in ihrem Film »Gloria« die Waisenmädchen den Sakral-Gesang zum Pop-Song-Festival umfunktionieren

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Wovon träumen die jungen Musikerinnen, die aus ihrer ummauerten Existenz ausbrechen wollen?
Wovon träumen die jungen Musikerinnen, die aus ihrer ummauerten Existenz ausbrechen wollen?

Wann wird ein Geräusch zur Musik? Die italienische Regisseurin Margherita Vicario (geboren 1988) zeigt in ihrem Debütfilm »Gloria«, dass hierbei alle Grenzen fließend sind. Ob ein Geräusch als Lärm oder aber als Musik empfunden wird, bleibt dabei eine Frage des Rhythmus. Und der Rhythmus, der »Gloria« durchpulst, sodass der Film zu leben scheint, wirkt hochmusikalisch in all seinen Facetten. Ein gelungener Anwendungsfall von Nietzsches »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum«.

Die Regisseurin selbst ist eine in Italien bekannte Sängerin, die mit ihren eigenen Liedern zwischen allen Stilformen mühelos wechselt, ebenso solistisch wie im Chor auftritt. All das hat sie nun in »Gloria« hineingenommen – ein Filmtitel, der jedoch in die Irre führen kann, denn in den letzten Jahren sind noch zwei weitere Filme unter diesem Titel in die Kinos gekommen.

Also wer wird hier glorifiziert? Jene Vielfalt von Klängen, wie sie Thomas Mann einst in seinem Kapitel »Fülle des Wohlklangs« im »Zauberberg« feierte – anhand des neu erfundenen Grammofons. Was bei Mann das Grammofon ist, war 100 Jahre zuvor in »Gloria« ein gewaltiges Pianoforte, mitsamt seinen neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Um dieses unerhörte Ereignis, das jede Routine beiseitewischt, dreht sich hier alles wie ein eigensinnig vor sich hin summender und surrender Kreisel.

Doch gleich wird die Euphorie angesichts dieses filmischen Erstlings, der auf der diesjährigen Berlinale immerhin im Wettbewerb vertreten war, aber nicht die verdiente Aufmerksamkeit erhielt, wieder gebremst. Das ist nicht seine Schuld, sondern die eines infantilen Marketing-Etiketts, das »Gloria« zum Filmstart aufgeklebt wurde: »Feelgood-Drama«. Was soll das sein, ein Drama zum Wohlfühlen? Bloßer Soft-Kitsch? Nein, das scheint »Gloria« keineswegs. Andere nennen es ein »Historien-Musical«, aber auch das ist ungenügend.

Die Berliner Zeitung sah in »Gloria« zur Berlinale gar eine »feministisch-reaktionäre Torte«, an der man sich leicht den Magen verderbe, und ein anderes Blatt postulierte: »Echte Girl-Power sieht anders aus.« Offenbar wissen alle genau, was sie hier vermissen – aber kaum jemand lässt sich auf die besondere Form dieses Films ein, der permanent von einer vibrierenden musikalischen Intensität getragen wird, in der sich eine lange Zeit zurückgestaute Lebenslust offenbart.

Mit den ersten Bildern von »Gloria« gleiten wir auf einer Gondel über die Lagune von Venedig (Kamera: Gianluca Rocco Palma). Denn der Ort der Handlung, das Kollegium St. Ignazio bei Venedig, ist eines jener ambitionierten Waisenhäuser, von denen es hier im 18. Jahrhundert zahlreiche gab. Venedig galt damals als Musikmetropole, aber die Hauptakteure blieben zumeist unsichtbar.

Es waren Waisenmädchen, die berühmten »figlie di coro« (»Chormädchen«), die hinter Klostermauern in Gesang und an Streichinstrumenten ausgebildet wurden. Heimlich komponierten sie auch. Als Musikerinnen kosteten sie dann später wenig, begleiteten – unsichtbar hinter Vorhängen verborgen – den Gottesdienst oder gaben Kirchenkonzerte. Auch der Musikunterricht für den Adel von Venedig lag in ihren Händen. Immerhin war auch Antonio Vivaldi, Venedigs berühmtester Musiker, Hauskomponist in einem solchen »Ospedale della Pietà«.

Die Regisseurin sieht in den hochbegabten – dabei permanent gedemütigten und reglementierten – jungen Frauen lauter Blumen, »die zum Trocknen zwischen den Seiten des Buches der Geschichte abgelegt wurden«.

Nun wagt »Gloria« 200 Jahre später – Napoleon sollte Venedig bald erobern und die überkommenen Strukturen zerstören – einen Blick hinter die Kulissen. Es ist eine Endzeit, man weiß hier von der Französischen Revolution, deren Ideale sich die Dogenrepublik mit allen Mitteln vom Leibe halten will. Gerade darum musste es Venedig wohl mit aller Macht treffen. Noch scheint nach außen alles wie immer. Aber im Verborgenen murrt und munkelt man – und schafft sich eine eigene Gegenwelt. So auch die jungen Musikerinnen, die sich im Keller des Instituts um ein dort achtlos abgestelltes Pianoforte versammeln, das ihnen ein berühmter Instrumentenbauer vermacht hatte.

Einerseits also liegt hier Schöpferkraft brach – oder schlimmer noch, sie wurden ihrer brachial enteignet, indem man ihre Werke anonymisierte oder gleich den »Meistern« zuschrieb, solchen wie jenem ausgebrannten und zynischen Kapellmeister Perlina (Paolo Rossi). Andererseits toben im Underground bereits die musikalischen Sessions, die wilden Happenings derer, die ohne Publikum sich selbst unterhalten – und dabei alle bisherigen Normen sprengen. Das scheint mir eine überaus originelle Perspektive auf eine Endzeit, in der im Verborgenen die Musik des Kommenden pulsiert.

So sehen wir Teresa (großartig: Galatéa Bellugi), Dienstmädchen in St. Ignazio, die für stumm gilt. Aber sie ist weder stumm noch taub, sondern verwandelt in der Küche das klappernde Geschirr in ihr Orchester. Man hat sie weggesperrt, weil sie von einem hohen Würdenträger ein Kind bekam, was niemand wissen soll.

Nun hat sich Papst Pius VII. in St Ignazio angesagt, und zu diesem Anlass soll ein Konzert von Kapellmeister Perlina uraufgeführt werden. Aber dem fällt nichts ein – und das ist die Stunde der Mädchen von St. Ignazio. Natürlich ist es bei diesen Künstlerinnen – da macht sich Regisseurin Margherita Vicario nichts vor – nicht anders als bei ihren männlichen Kollegen: Ohne Konkurrenz, ohne kleine Intrigen und Neid, geht es auch hier nicht ab. Aber dennoch bleibt das einende Band, der vitale Klang, der sie verbindet.

Ein Ziel haben sie: das schließlich stattfindende Konzert für den Papst furchtlos zum Skandal zu treiben und den erwarteten demütigen Sakral-Gesang zum Pop-Song-Festival umzufunktionieren. Die Filmmusik hat Margherita Vicario zusammen mit Davide Pavanello selbst komponiert, sie durchzieht diesen sehr viel sehens- und hörenswerteren Film, als seine lustlosen Kritiker meinten, wie ein Gewebe, das überaus fein gesponnen ist.

Wovon träumen die jungen Musikerinnen, die aus ihrer ummauerten Existenz ausbrechen wollen? Von Germaine de Staël, jener Ikone der frühen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, die mit ihrem Briefroman »Delphine« für Furore sorgte. Unabhängig und frei wollen sie zusammen durch Frankreich und die Schweiz ziehen, um dort aufzutreten. Nachdem Napoleon 1807 die Klöster von Venedig für aufgelöst erklärt hat, beginnt auch für sie eine neue Zeit.

»Gloria!«, Italien, Schweiz 2024. Regie: Margherita Vicario; Buch: Margherita Vicario, Anita Rivaroli. Mit: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Veronica Lucchesi, Maria Vittoria Dallasta, Sara Mafodda, Paolo Rossi. 106 Min. Kinostart: 29. August.

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