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  • Immer wieder Karl May

Sachsen oder USA, Hauptsache Orient

Wer war das denn? Karl May als Phänomen und Projektion, untersucht von Enis Maci und Mazlum Nergiz

  • Jonah Lubin / Lutz Vössing
  • Lesedauer: 5 Min.
Deutsche Projektionen: Alexander Klaws als Winnetou reitet 2023 während der Premiere »Winnetou I – Blutsbrüder« der 70. Saison der Karl-May-Spiele in Bad Segeberg (Schleswig-Holstein) durch das Publikum.
Deutsche Projektionen: Alexander Klaws als Winnetou reitet 2023 während der Premiere »Winnetou I – Blutsbrüder« der 70. Saison der Karl-May-Spiele in Bad Segeberg (Schleswig-Holstein) durch das Publikum.

Im Jahr 2022 erleidet Deutschland einen Nervenzusammenbruch: Karl May soll verboten werden! Oder so ähnlich. Der Ravensburger-Verlag zieht sein Bilderbuch-Merchandise, das eine neue May-Verfilmung begleiten sollte, freiwillig zurück – vielleicht war es ihm einfach zu dumm. Vielleicht war aber auch der Druck der Cancel-Woker*innen zu groß und man befürchtete einen Imageschaden, der mit den möglichen Einnahmen nicht zu beheben gewesen wäre. Man soll ja nicht immer vom Besten ausgehen. So oder so ähnlich war das. Wie genau, kann man nachrecherchieren. Machen aber die wenigsten, extrem reagieren tun sie trotzdem, gehen auf die Straße oder kaufen erst recht Bücher des Literatur-Giganten – bevor es nicht mehr geht.

Diese Reaktionen waren leider das Interessanteste an der ganzen Causa. Dass einem jetzt auch noch Karl May verboten würde, den man doch als Kind gelesen habe und der ja als Erster überhaupt das Interesse an Indianern/Unterdrückten/Native Americans/Indigenen/Außenseitern/Abenteurern und so weiter geweckt habe. Der einen so sensibilisiert habe. Ja, okay. Klar.

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Was für eine Person war er überhaupt? Welche gesellschaftlichen Umstände und persönlichen Lebensumstände brachten ihn als Autor hervor und begünstigen sein anhaltendes Schillern? Er ist ein Schriftsteller, der weiterhin zur Projektion taugt und dessen Werk konstant in kulturelle Kämpfe verwickelt wird. Ob es wirklich noch gelesen wird, ist eine andere Frage. Was man aber auf jeden Fall sagen kann: Vieles in Karl Mays Vita ist wohl nicht unbedingt wirklich passiert, jedoch wahr. Und genau darum geht es in dem Buch »Karl May« von Enis Maci und Mazlum Nergiz.

Im Untertitel wird May als »Kleinkrimineller, Hochstapler, Deutschlands erfolgreichster Schriftsteller« bezeichnet. Die beiden Autor*innen betonen, dass wenig in seiner Biografie gänzlich gesichert ist. Relativ sicher ist: Er wurde 1842 im sächsischen Ernstthal als eines von 15 Geschwistern geboren. Dann Schule und Ausbildung, Arbeit als Lehrer, und später Gefängnisaufenthalt, nachdem er einem »Freund« unter anderem dessen Etui samt Feder gestohlen hatte. Behauptung: Es war doch bloß geliehen. Kann man letztendlich nicht mehr beweisen. Aber irgendetwas daran wird wahr gewesen sein, denn May beendete seine Haft laut offizieller Geschichtsschreibung als ein anderer Mensch, auf eine Art gebrochen. Er nannte sich fortan Dr. May und veröffentlichte bis zu seinem Lebensende Bestseller über Orte, die er selbst nie besucht hatte, schrieb über Menschen, mit denen er nie Kontakt hatte und von denen er nur gelesen hatte.

Sein Leben fand vor allem in Sachsen statt, das Elbsandsteingebirge wurde von ihm gedanklich in die USA oder in den Nahen Osten verlagert, er selbst ritt in seinen Romanen als Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand durch die Gegend und verkörperte den Prototypen eines »germanischen Indianers« – ganz nach Mays persönlichen Vorstellungen von »Rasse«.

Maci und Nergiz dekonstruieren in ihrem Buch nicht die Person, sondern »das Phänomen« Karl May. Vorstellungen und Begebenheiten, von denen man vielleicht mal gehört hat, werden in Verhältnisse und Zusammenhänge gebracht. Das Bild des »edlen Wilden« zum Beispiel, indem die Autor*innen die Geschichte der Sklaverei anreißen. Oder May neben zeitgenössische Hochstapler wie Wolfgang Beltracchi oder Fabian Wolff stellen. Das ist nicht wirklich Literaturkritik, vielleicht eher eine Art Distant Reading: Die Deutung des Werks orientiert sich nicht am Text selbst, sondern an der Art und Weise, wie das Werk als Ursprung von Projektion bis heute wirkt.

Allgemein ist Projektion eine Vorbedingung von Erkenntnis. Das zu Erkennende wird dabei gewissermaßen Teil von einem Selbst. Nur so kann es mit unserem Erleben und Erkennen in Verbindung gebracht werden. Für Maci und Nergiz projizierte sich der Autor May auf den »Westen« der USA und dieser wurde wiederum zu Preußen – ebenfalls Ort seiner Projektion. Winnetou ist bei ihm der perfekte Preuße. Das ist lächerlich, aber es passt irgendwie doch: Die ursprünglichen slawischen Gebiete von Preußen und Sachsen wurden während der mittelalterlichen Ost-Besiedlung erobert und »germanisiert«. Wenn man sich Preußen als umkämpftes Gebiet von »Cowboys und Indianern« vorstellt, ist das vielleicht nicht so abwegig, wie es zuerst scheinen mag.

Auch heute ist der Blick auf die USA von Projektion geprägt. Jede*r scheint eine Vorstellung von gewissen US-amerikanischen Städten wie New York oder Los Angeles zu haben, ohne jemals dort gewesen zu sein. Gleichzeitig drängt die digital vermittelte Welt dazu, sich selbst auf die US-amerikanische Welt zu projizieren. Das macht das Buch von Maci und Nergiz so spannend und aktuell. Jedoch geht es nicht nur darum, die Projektionen auf die Anderen zu untersuchen, sondern auch sich selbst als Projektion der Anderen zu verstehen. Hier findet sich eine Wurzel der postkolonialen Literaturkritik: Leute, die fantasiert wurden, lesen nun selbst eben jene Fantasien. Diese Erfahrung wird in »Karl May« reflektiert.

Denn die Deutschen Maci (mit albanischen Wurzeln) und Nergiz (in der Türkei geboren) lesen die deutschen Projektionen der »exotischen« Anderen, eine Rubrik, unter die sie in gewisser Weise auch selbst fallen könnten. Diese Form einer »Wiederbegegnung« ist nicht bloß unheimlich, sondern auch produktiv, indem sie Dynamiken der Projektion sichtbar macht. Auch die »Erstbegegnung« mit »dem Deutschen« ist wichtig: Die zwei Autor*innen erzählen mit einer Stimme und erinnern sich, wie man selbst als Kind Grimms Märchen auswendig lernte, um die Deutschfehler der Eltern zu vermeiden. Ob die Brüder Grimm mit ihrer Nationalphilologie damit gerechnet hätten?

»Karl May« erprobt die Ästhetiken von durch Projektion überlagerter Koordinatensysteme. Für Maci und Nergiz sind diese Ästhetiken der wesentliche Reiz an May: ein Preuße als Native American oder ein kleinkrimineller Hochstapler als Schriftsteller mit Doktortitel. Diese Transformationen passieren nicht reibungslos, erst in der Reibung entsteht die Spannung.

Bevor sie ihr Buch schrieben, inszenierten Maci und Nergiz für die Berliner Volksbühne ein Theaterstück über Karl May, auf das sie immer wieder eingehen. Drei Schauspieler*innen reden von Karl May, vom Westen und von der schrecklichen Aufgabe, sich selbst und »die Anderen« zu kreieren. Sie stehen vor einer großen Leinwand, auf die die Visionen des Exotischen und manchmal auch die Schauspieler*innen selbst projiziert werden, wovon das Buchcover einen Eindruck gibt.

Enis Maci/Mazlum Nergiz: Karl May. Kleinkrimineller, Hochstapler, Deutschlands erfolgreichster Schriftsteller. Suhrkamp, 200 S., br., 18 €.

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