Renato Cesarini: Einfach abziehen

Eine Redensart wird zum Roman: Kurt Lanthaler erzählt das Leben des legendären Fußballers Renato Cesarini

  • Ralf Höller
  • Lesedauer: 5 Min.
Renato Cesarini wieder in Bestform, beim Spiel gegen Mailand 1933
Renato Cesarini wieder in Bestform, beim Spiel gegen Mailand 1933

Goool – de Alemanha»: Zehn Jahre ist es her, dass brasilianische Reporter diese Meldung verkünden mussten; gleich siebenmal in einem Spiel. Ihre Hiobsbotschaften trugen sie mit gemäßigtem Tremolo vor, nur drei «o» statt der üblichen 23, wenn ihre Mannschaft trifft. Doch Tore hatte in jenem denkwürdigen WM-Halbfinale von Belo Horizonte, bis auf den völlig bedeutungslosen Ehrentreffer kurz vor Schluss, nur die deutsche Elf erzielt. Am Ende hieß es 1:7. Für Brasilien war es ein nationales Trauma, die größte Demütigung seit der Niederlage gegen Uruguay 1950, als die Gastgeber schon einmal eine Heim-WM vergeigten (und danach nie wieder ihre bis dahin weißen Trikots anzogen).

Auch die Schmach von 2014 hat sich tief in Herz und Hirn der fußballverrückten Nation gegraben. Selbst die Sprache trägt Spuren: Geht eine Sache – auch abseits des Platzes, im täglichen Leben – fürchterlich schief, kommentieren sie dies in Brasilien mit drei dürren Worten: «Gol de Alemanha», Tor für Deutschland.

Nicht nur in Brasilien hat der Fußball Einzug in die Alltagssprache gehalten. In Italien etwa gibt es ein geflügeltes Wort, das unserer Redensart «auf den letzten Drücker» entspricht. Wird südlich des Brenner etwas in letzter Minute erledigt, geschieht dies «in Zona Cesarini». Auch dieses Idiom, wie das viel spätere entstandene brasilianische Äquivalent des Worst Case, geht auf ein konkretes Fußballereignis zurück.

Gefragt, wo es ihm am besten gefällt, käme vermutlich als Antwort: auf dem Schiff.

Es geschah am 13. Dezember 1931 in Turin. Die italienische Nationalmannschaft empfing Ungarn, beide Teams befanden sich im Zenit und kickten auf Weltklasseniveau. Sekunden vor Schluss stand es 2:2. Es roch nach einem Unentschieden. Damit konnten alle leben, außer Renato Cesarini. Als sich sein Mittelstürmer Raffaele Costantino anschickte, einen schnöden Rückpass zu spielen, schob Cesarini ihn einfach zur Seite, schnappte sich die Kugel und zog ab. «Nach zwanzig Metern Flugbahn», sollte sich der Schütze mit einigen Jahren Abstand erinnern, «und zwanzig Sekunden Flugzeit ist der Ball dann drin. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.» Die Ungarn fanden keine Antwort mehr; die Presse, auch die internationale, feierte das (faschistische) Italien und vor allem Cesarini.

Rund um die Redensart hat Kurt Lanthaler nun einen sehr kunstvollen Roman gesponnen. Es geht nicht allein um Fußball. Eher um eine nicht ganz untypische Einwandererbiografie: Cesarini, noch im armen italienischen Süden geboren, kommt als Säugling nach Buenos Aires. Dort wächst er im Barrio Palermo auf, unter lauter Landsleuten, die dem Stiefel den Rücken gekehrt haben. «Der Argentinier», merkt der kleine Renato bald, «ist ein Italiener, der Spanisch spricht.»

Und sonst? Renato geht eher selten zur Schule; wenn doch, dann lieber nicht in den Schuhen, die ihm sein Vater, ein neapolitanischer Schuster, gefertigt hat. Die trägt er im Zirkus, wo er sich nützlich macht und der ihm zur zweiten Heimat wird. Seine erste ist längst der Fußball geworden. Renato kickt, selbstverständlich in den väterlichen Tretern, in der Jugendabteilung seines Stadtteilvereins Borgata Palermo. Als Erwachsener wechselt er zu den Chacarrita Juniors, die gleich in Cesarinis Debütsaison in die Erste Liga aufsteigen.

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So viel Talent bleibt auch in Italien nicht unverborgen. Juventus Turin klopft an, Cesarini folgt dem Ruf. Fünfmal hintereinander, von 1931 bis 1935, gewinnt Juve den Scudetto, die italienische Meisterschaft. Eine Ära wird begründet, Cesarini hat sie mitgeprägt. Und ist im Jahr darauf wieder in Argentinien: Auch dort gewinnt er die Meisterschaft, mit River Plate.

Immer wieder pendelt Cesarini zwischen seinen beiden Heimatländern, an denen er hängt, von denen er aber nicht abhängt. Gefragt, wo es ihm am besten gefällt, käme vermutlich als Antwort: auf dem Schiff. Obwohl Benito Mussolini den italienischen Fußball nach Kräften fördert, steht Cesarini dem Faschismus kritisch gegenüber. Keineswegs ist er bereit, sich in gezähmte Bahnen lenken zu lassen. Sein wildes Leben oszilliert zwischen Tangolokalen (von denen er selbst eines betreibt) und Nachtklubs, Zirkuszelten, Boxringen (ein Sport, der ihn fasziniert) und Stadien.

Der schillernde Cesarini wird zum Liebling des Boulevard. Und zum Überwachungsobjekt von Mussolinis Spionen; die Spitzelberichte hat Lanthaler in den Roman eingestreut. Übrigens ohne die literarische Qualität zu mindern, denn dieser Spitzel ist bildungsbeflissen und schreibt entsprechend. Als Dante-Verehrer sorgt er sich sehr um die italienische Kultur, für die Subjekte wie Cesarini alles andere als ein Aushängeschild darstellen. Auch nach seiner Fußballerkarriere und nach dem Krieg bleibt Cesarini den Rechten, inzwischen Neofaschisten, ein Dorn im Auge, da er als erfolgreicher Trainer weiter die Jugend verdirbt.

Lanthalers «Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini», so der komplette Titel, ist ein meisterhaft orchestrierter Roman. Die zahlreichen Abschweifungen und Nebenschauplätze verlangen zwar einiges an Konzentration ab; dafür erleichtert ein dreiseitiges Inhaltsverzeichnis die Orientierung. Am Ende lohnt sich das Eintauchen in die Zona Cesarini auch und gerade für eine nicht fußballerisch vorgebildete Leserschaft. Hilft sie ihr doch, die Argentinier einzusortieren und auch die Italiener; vergangene und gegenwärtige.

Zu letzteren zählt der Trump- und Putinversteher Gennaro Sangiuliano, wie Cesarini aus Neapel stammend. Lanthaler bedenkt auch ihn mit einer Spitze. Sangiuliano, einst aktiv in der Jugendorganisation der italienischen Neofaschisten, amtierte bis zu seinem Rücktritt vor wenigen Tagen als Kulturminister in der Regierung Meloni. Er verehrt Dante und sorgt sich sehr um die Reinheit im Fegefeuer.

Kurt Lanthaler: Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini. Folio, 259 S., geb., 25 €.

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