- Kultur
- Die Gute Kolumne
Zeigt her eure Fahrscheine – just do it!
Früher waren U-Bahnhöfe traurige Transitzonen zwischen zwei Stationen. Heutzutage schreien uns bunte Werbekampagnen entgegen: Sei nützlich!
Man erinnere sich, wie U-Bahnhöfe im geteilten Berlin (und selbst noch Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung) früher ausgesehen haben. Es waren finstere Orte der Trostlosigkeit. Karge Transitzonen, geschaffen nur für den nackten Zweck, dem sie zu dienen hatten: temporärer Abstellraum zu sein für die Menschen, die von hier nach dort transportiert werden mussten. Kahle Kachelwände, im Halbdunkel liegende Bahnsteige, von grellem Neonlicht beschienene, verdreckte Mülleimer: eine Tristesse, die mit Händen zu greifen war. Dem Fahrgast blieb noch nicht einmal die Wahl zwischen Schmutz und Langeweile: Beides war im Überfluss vorhanden.
Den Gedanken an die Schönheit und das Glück des uneingeschränkten Konsums und die Idee des Hedonismus eines ganz und gar dem Verbrauch von Waren gewidmeten Lebens hatte man vollständig aus dieser Umgebung eliminiert. Das Einzige, das – auf schmalen, kleinen rechteckigen Aufklebern, die im einen oder anderen U-Bahnwaggon über den Fenstern angebracht waren – zu lesen war und beim traurigen Fahrgast kurzzeitig einen Rest Erinnerung an die Existenz eines Daseins jenseits der allumfassenden Bahnhofstrübsal aufscheinen ließ, war die bis heute sträflich unterschätzte Poesie der Berliner Brotfabrik Paech: »Ganz furchtbar schimpft der Opapa / Die Oma hat kein Paech-Brot da.« »Schinken nützt nichts, Wurst und Ei, / Fehlt das Paech-Brot dir dabei.« »Ach, liebe Mutti, bitte, bitte, / Gib mir doch noch ne Paech-Brot-Schnitte.«
Darüber hinaus gab es nichts, was Freude aufkommen ließ. Der Rest des gesamten Berliner Nahverkehrskosmos war ein poesieloser und von allem Vergnügen gereinigter Bereich, aus dem jede winzige Spur von Lebenslust und Bumsfallera getilgt worden war.
Bis vor kurzem eine findige Sportartikelfirma den Einfall hatte, einen kompletten Kreuzberger U-Bahnhof in Beschlag zu nehmen, ihn zum gigantischen, zeitgemäßen Fun Space umzugestalten. Nicht nur sämtliche Plakatwerbewände sind dort mit Fotos von fröhlich lachenden, enthusiastisch Sport treibenden jungen Menschen belegt, auch die Pfeiler, der Bahnsteig und Treppen sind vollständig mit bunter Reklame ausgestattet. Fresh, liebe BVG! »Run Your Way« und »Always On The Run« lauten die vielsagenden Werbeslogans, die uns, die Wartenden, auffordern, nicht für den Rest des Lebens schlecht gelaunt und untätig herumzustehen. Und der Slogan passt ja auch fantastisch: Niemals verweilen, immer in Bewegung bleiben, so lautet die Parole des modernen Metropolenmenschen. Niemals darf die Dauerbetriebsamkeit zum Stillstand kommen. Run Your Way! Was heute abwertend »Rattenrennen« heißt, ist tatsächlich eine zeitgemäße Variante der Selbstoptimierung: im Wettbewerb schneller, härter, trainierter zu sein als die ganzen Loser.
»Guten Tag, liebe Fahrgäste. Diese Fahrscheinkontrolle wird Ihnen präsentiert von Adidas. Impossible is nothing.« Oder auch: »Zeigen Sie bitte Ihren Fahrausweis vor. Just do it. Nike.«
-
Doch warum nicht den entscheidenden Schritt weiter gehen? Da wäre doch noch Luft nach oben! Die Freie Marktwirtschaft schreitet in Siebenmeilenstiefeln voran. Moderne Produktinformation sollte nicht den Zartbesaiteten und Mutlosen überlassen werden. Wer wagt, gewinnt: U-Bahnhöfe bestehen ja nicht nur aus Wänden, an denen Werbeplakate angebracht sind, nicht nur aus Pfeilern, Treppen und Bahnsteigen. Man könnte auch die Sitzbänke in den Waggons sowie die Böden und Fenster mit Werbetransparenten des Unternehmens bespannen. Ich sehe den Slogan schon vor mir: »Don’t sit, get fit.«
Auch fehlen an den Waggonwänden und -decken noch große Bildschirme, auf denen rund um die Uhr Werbespots des Sportartikelherstellers gezeigt werden, in denen zu sehen ist, wie nimmermüde, optimistisch gestimmte, der Zukunft zugewandte Menschen nach Herzenslust joggen und sich mit Hanteltraining fit machen für den Markt. Bilder, die ihre hochmotivierende und aktivierende Wirkung auf die mürrisch vor sich hinstarrenden Fahrgäste gewiss nicht verfehlen werden.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht alle Bahnhöfe wie der hier beschriebene aussehen sollten.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Sicher ist jedenfalls: Es gibt auch darüber hinaus unendliche Möglichkeiten, das ÖPNV-Erlebnis noch intensiver zu machen. So könnten etwa sämtliche Angestellten der Verkehrsbetriebe integriert werden in dieses wunderbare Reklameparadies, indem man ihnen eine neue Arbeitsuniform in Form gelber Trainingsanzüge verpasst, auf denen – deutlich größer als der Firmenschriftzug der BVG, versteht sich – das Logo des jeweils werbenden Unternehmens prangt: »Puma. Forever Faster.«
Auch die Löhne der Kontrolleure könnten eingespart werden, dafür gäbe es künftig Sponsoren. Allerdings müsste die Ansprache an den Fahrgast geringfügig modernisiert werden: »Guten Tag, liebe Fahrgäste. Diese Fahrscheinkontrolle wird Ihnen präsentiert von Adidas. Impossible is nothing.« Oder auch: »Zeigen Sie bitte Ihren Fahrausweis vor. Just do it. Nike.«
Am besten jedoch wäre es, wenn man den Fahrgästen gleich beim Erwerb der BVG-Jahreskarte einen Chip des werbetreibenden Unternehmens ins Hirn implantieren ließe. Ja, das wäre das Beste. Weil wir euch lieben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.