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- Hamas-Anschlag am 7. Oktober
Antisemitismus als Code: Auf der richtigen Seite
Seit dem 7. Oktober ist Antisemitismus weit verbreitet. Welche Funktion er erfüllt, wird an den »kulturellen Codes« deutlich, in denen er auftritt
Zuerst wurden über Wochen rote Dreiecke und die Hamas verherrlichende Botschaften an die Wand geschmiert. Dann kam es am 29. September zu einem Brandanschlag. Die Angriffe auf die linke Berliner Kneipe »Bajszel« sind Ausdruck einer sich zuspitzenden Tendenz: Wer sich mit Israel solidarisch zeigt und die verschiedensten Erscheinungsformen des Antisemitismus auch innerhalb der Linken kritisiert, wird von Teilen der Linken als Feind angesehen, als nicht links, als zionistisch, was einigen mittlerweile als annähernd gleichbedeutend mit faschistisch gilt – und Faschisten bekämpft man als Linke schließlich.
Um als solch ein Feind markiert zu werden, braucht es mittlerweile nicht viel. Das traditionsreiche »New Left Review« – jenes Theorieorgan der internationalen Neuen Linken seit den 60er Jahren, das nie, und vor allem nicht seit dem 7. Oktober 2023, an antiisraelischen Beiträgen gespart hat – wurde jüngst auf der Plattform »X« als »irrelevante«, CIA-gesteuerte und Faschismus unterstützende »Müllpublikation« angegriffen. Grund dafür war ein Interview, in dem beiläufig erwähnt wurde, dass es in der Redaktion eine Debatte darüber gebe, »ob ›Genozid‹ die treffendste Bezeichnung für Israels Flächenbombardierung des Gazastreifens ist«. Der digitale Mob tobte in der Kommentarspalte. Zögern, Nachdenken, Zweifel werden nicht akzeptiert – und es dauerte nicht lange, bis auch hier das rote Dreieck als Feindmarkierung auftauchte.
Gemeinschaft und Feindmarkierung
Nach dem 7. Oktober 2023 kursierten von der Terrororganisation Hamas lancierte Videos im Internet, in denen diese israelische Ziele mit einem auf der Spitze stehenden roten Dreieck markierte, bevor diese eliminiert wurden. Schnell verbreitete sich das Symbol über den Globus. Auch in Deutschland wurde es bei Universitätsbesetzungen, Demonstrationen und in den sozialen Medien zum Zeichen von sich selbst als progressiv verstehenden Gruppen.
Neben Feindmarkierungen wurde das Symbol auch zur Suggestion von Zugehörigkeit auf Transparenten und bei Besetzungen instrumentalisiert. Das Terror-Dreieck wurde zum eigenen Symbol, zum Erkennungszeichen einer Szene, die jene Verbindung zum Islamismus und offen antisemitischen Hass gegen Juden und Israel in Kauf nimmt oder gar affirmiert. Selbst Gruppen, die mit offenem Judenhass ein Problem haben, nutzen Symbole und Forderungen von Judenhassern. Wie kann das überhaupt möglich sein? Es zeigt, dass sich Antisemitismus wieder in das Repertoire der kulturellen Codes des 21. Jahrhunderts eingefügt hat.
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Diese Symbole und Zuschreibungen wirken sinn- und gemeinschaftsstiftend, und zwar über das Versprechen auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Dazu dient ein Feindbild, das weit über die Kritik an der israelischen Regierung hinausreicht, das eine globale Schicksalsentscheidung zwischen Gut und Böse aufruft und Klarheit bietet: Israel. Wo eine solche Projektion vorliegt, haben wir es mit Antisemitismus zu tun, der in den antizionistischen Mobilisierungen der vergangenen Monate offen in Erscheinung trat.
Um diesen Zusammenhang zu verstehen, lohnt ein Blick in die Antisemitismusforschung vergangener Jahrzehnte und deren Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Linken zu Israel. Die Historikerin Shulamit Volkov hat in den 70er Jahren den Terminus »kultureller Code« eingeführt, um zu beschreiben, wie Antisemitismus sich in bestimmten Zeiten raumnehmend verbreitet. Dies erleben wir zurzeit.
Ein »Signum kultureller Identität«
Historisch war die Tabuisierung des Antisemitismus eine Reaktion auf die Shoah, den deutschen Massenmord an den europäischen Juden, und den verlorenen Krieg. Die Nationalsozialisten hatten die Volksgemeinschaft aktiviert, um alles »Jüdische« aus der Welt zu schaffen, und waren stolz darauf, Antisemiten zu sein.
Die erste Rede Adolf Hitlers vor einem größeren Publikum, gehalten im Sommer 1920 im Münchner Hofbräuhaus, trug den Titel »Warum wir Antisemiten sind«. Darin erklärte Hitler ausführlich, dass »der Jude« der Feind der Deutschen sei, er bringe das Übel in die Welt. Ideologisch vorbereitet wurde diese nationalsozialistische Eskalation Jahrzehnte davor im Kaiserreich. Hier wurde das Wort »Antisemitismus« erfunden, hinter dem sich eine ganze politische Bewegung versammeln konnte.
Der Antisemitismus, so bestimmte es Jean Améry, ist im Antizionismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke.
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In den 1880er Jahren gehörte der Antisemitismus schlicht zum konservativen und rechten Repertoire. Der Antisemitismus wurde, so Volkov, zu einem kulturellen Code. Er musste nicht erklärt oder legitimiert werden, sondern flocht sich wie selbstverständlich in Diskurse und Debatten, Symbole und Identitäten ein. Volkov beschreibt den Begriff wie folgt: »Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager.«
Volkov selbst musste feststellen, dass ihre Diagnose sich keineswegs auf das 19. Jahrhundert und das deutsche Kaiserreich beschränken lässt, sondern Antisemitismus in vielen Fällen als kultureller Code auftaucht. Vielleicht war diese Einsicht nie aktueller als nach dem 7. Oktober: Israelbezogener Antisemitismus ist zu einem kulturellen Code des 21. Jahrhunderts geworden. Zwar ist heutzutage kaum noch jemand stolz darauf, Antisemit zu sein – vor allem nicht unter Linken. Antisemitismusdefinitionen, mit denen »Israelkritik« und Antizionismus sorgfältig von Antisemitismus unterschieden werden sollen, machen es möglich, dass man sich einerseits von Judenhass abgrenzen kann, aber zugleich vor Synagogen gegen Israel demonstriert, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober als Akt der Befreiung verklärt oder Erinnerungsorte an die Shoah im Namen einer »Israelkritik« beschmiert.
Das alles ist israelbezogener Antisemitismus, mit dem man sich gegenseitig beweist, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ja zur gesellschaftlichen Linken selbst zu gehören. Diese identitätsstiftende Funktion des Antisemitismus wird weithin unterschätzt, aber sie zeigt sich spätestens daran, wie leicht jene aus der Linken ausgeschlossen werden, die nicht auf Linie sind. Diese Entwicklung ist gar nicht so neu. Der 7. Oktober, so die jüdische Autorin Laura Cazés in der »Jüdischen Allgemeinen«, ist eher »die brutale Kulmination von Kontinuitäten«. Diese Kontinuitäten müssen verstanden werden, um den Trend umkehren zu können.
In den 80er Jahren analysierte Volkov, wie der »Antisemitismus als Kennzeichen einer ganzen Subkultur« der Neuen Linken seit den 60er Jahren funktionierte. Besonders der Antizionismus wurde nach dem Sechstagekrieg 1967 zum »Erkennungszeichen der Zugehörigkeit«. Dafür hatte man ein »Pauschalangebot« zu akzeptieren, zu dem die Verabscheuung Israels gehörte. Insbesondere für Juden war die Übernahme dieser Haltung eine Art »Loyalitätstest«. Die Folge damals war: Antisemitismus wurde wieder »ehrbar«, so nannte es Jean Améry 1969. Heutzutage würde man vielleicht sagen: salonfähig. Der Antisemitismus, so bestimmte es Améry, ist im Antizionismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke.
Eine dringliche Forderung
In der unmittelbaren Nachkriegszeit war es deutsche Linke, nicht zuletzt die Gewerkschaften, die mit ihrer pro-israelischen Position vorangingen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund war mit der israelischen Histadrut seit 1949 gemeinsam im Internationalen Bund Freier Gewerkschaften organisiert. Früh forderten die Gewerkschaften, der deutsche Staat möge diplomatische Beziehungen zum jüdischen Staat aufnehmen. Die Stimmung kippte mit dem Sechstagekrieg 1967, in dem Israel mit einem Präventivschlag auf anhaltende Drohungen reagierte und binnen kürzester Zeit Landgewinne verzeichnen konnte. Viele Linke identifizierten sich fortan als antizionistisch, Israel galt als Aggressor. Die aufkommenden linksradikalen Guerilla-Gruppen sorgten zusammen mit palästinensischen Terrororganisationen dafür, dass die folgenden Jahre durch Terror gegen Jüdinnen und Juden geprägt waren: Bei einem Brandanschlag auf das jüdische Altersheim in München starben 1970 sieben Bewohner*innen; bei der Flugzeugentführung in Entebbe beteiligten sich 1976 Linke an der Selektion der jüdischen Geiseln.
Erst eine scharfe, innerlinke Debatte seit den späten 80er Jahren und nicht zuletzt Selbstkritik einzelner Gruppen führte zu einem Umdenken. 1991 veröffentlichten die sogenannte Revolutionären Zellen ihren bis heute lesenswerten Brief »Gerd Albertus ist tot«, in dem sie Jahre nach ihrer Beteiligung an eben jener Selektion bei der Flugzeugentführung in Entebbe aufrecht und selbstkritisch zugestanden: »Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als historisches und soziales Faktum fortlebt.«
Solche Debatten brachten es mit sich, dass es in Deutschland auch linke Positionen gibt, die nah sind an dem, was Améry einmal eine »Forderung der praktisch-politischen Vernunft« nannte: »dass die Solidarität einer Linken, die sich nicht preisgeben will (ohne dass sie dabei das unerträgliche Schicksal der arabischen Flüchtlinge ignorieren muss), sich auf Israel zu erstrecken, ja, um Israel zu konzentrieren hat«. An Dringlichkeit hat diese Forderung bis heute nichts verloren.
Diese innerlinken Debatten spielen mittlerweile kaum noch eine Rolle. Aufgehoben sind sie nur noch im Feindbild der »Antideutschen«, das sich auf alle ausbreitet, die weiterhin Antisemitismuskritik für ein notwendig linkes Projekt halten – und damit das Bedürfnis nach einer geeinten Linken stören, die dafür allzu oft den eigenen Antisemitismus in Kauf nimmt. Linke Antisemitismuskritik beschädigt das Gefühl der eigenen Richtigkeit.
Antisemitismus als kultureller Code des 21. Jahrhunderts, wie er etwa im roten Dreieck der Hamas vorliegt, bietet Orientierung in der politischen Arena und stiftet Gemeinschaft. Der Code wird genutzt von denen, die dazugehören wollen. Sie konstruieren damit ein Selbstbild, das sich aus Feindbildern speist – eine Funktion, die Antisemitismus im Allgemeinen besitzt. Er verspricht immer, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und suggeriert das Gefühl, das Böse klar sehen zu können. In einem Redebeitrag bei der Besetzung an der Münchner Universität sagte ein Redner, nur wer propalästinensisch sei, sei »ein guter Mensch«. Die richtige Seite der Geschichte hält auch ein Erlösungsversprechen parat. Während der Besetzung der Berliner Humboldt-Universität wurde sinnbildlich dafür »Gaza will free us all« an die Wand geschrieben.
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