»Die Menschen wählen nicht nach ihren ökonomischen Interessen«

Floren Aoiz, Leiter der linken baskischen Parteienstiftung Iratzar, über die extreme Rechte in Europa und das Nachleben des spanischen Faschismus

Mit faschistischen Grüßen: Befürworter des spanischen Diktators Franco zu seinem 34. Todestag am 22. November 2009 in Madrid
Mit faschistischen Grüßen: Befürworter des spanischen Diktators Franco zu seinem 34. Todestag am 22. November 2009 in Madrid

Die Erfolge der extremen Rechten sind oft unbegreiflich: In Österreich beispielsweise folgte auf ein Extremwetterereignis mit schweren Überschwemmungen der Wahlsieg der FPÖ, die den Klimawandel leugnet.

Möglicherweise wählen viele Menschen die Rechte genau deshalb – als Instrument der Realitätsverweigerung. Ich denke, wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, Menschen würden auf der Grundlage ökonomischer Interessen wählen. So als seien Ausbeutung und Gerechtigkeit Phänomene, die sich sofort durchschauen lassen. In Wirklichkeit hängt unsere Wahrnehmung stark von Werten und Einstellungen ab. Sie durchläuft einen Filter. Und die extreme Rechte versteht es, Muster bereitzustellen, mit denen Unzufriedenheit und Unsicherheit »erklärt« werden. Das wirft natürlich die Frage auf, warum der Linken das nicht gelingt.

Das sind aber noch nicht die eigentlichen Ursachen der Entwicklung.

Der Erfolg des Autoritarismus ist sowohl Folge der kapitalistischen Entwicklung als auch eine Antwort auf sie. Soll heißen: Einerseits wird der Kapitalismus wegen seiner Krisen selbst immer autoritärer, andererseits machen sich die Rechten die gesellschaftliche Unzufriedenheit aufgrund der unerfüllten Zukunftsversprechen des Neoliberalismus zunutze und präsentiert sich als Gegenbewegung. Das gelingt ihnen auch deshalb so gut, weil aus emanzipatorischer Sicht keine glaubwürdigen Alternativen zum Kapitalismus formuliert werden. Und damit meine ich jetzt nicht utopische Entwürfe, wie die Welt aussehen sollte, sondern ein realistisches Projekt, wie sich die Gesellschaft radikal und doch konkret verändern ließe.

Interview

Floren Aoiz, 1966 in Tafalla/Navarra geboren, ist Leiter der Parteien­stiftung Iratzar, die zum europäischen Transform-Netzwerk gehört und dem baskischen Linksbündnis EH Bildu nahesteht. Die Unabhängig­keits­partei Bildu, die die sozialdemokratische Regierung in Madrid mitträgt, ist eine der wenigen erfolg­reichen europäischen Links­parteien. Bei den Wahlen im April kam das Bündnis auf 32 Prozent. Aoiz saß als politischer Sprecher der Unabhängigkeitsbewegung 1997 bis 1999 in Spanien im Gefängnis.

Die extreme Rechte ist doch aber gerade keine Alternative zum System.

Ja, das stimmt. Man versteht sie eher, wenn wir über die Triebstruktur in der Gesellschaft nachdenken. Die Rechte richtet die Spannung, die sich nicht vertikal gegen die Mächtigen artikuliert, horizontal als Hass auf den »Anderen« – gegen den Schwarzen, die Feministin, die Migranten. In dieser Hinsicht kanalisiert sie eine doppelte Unzufriedenheit: mit den Verhältnissen und mit den kleinen Fortschritten bei Feminismus, Antirassismus oder Klimaschutz. Auch wenn diese Arten von Unzufriedenheit völlig unterschiedlich sind, schafft es die Rechte, sie zusammenzubringen.

Sie beschäftigen sich viel mit Argentinien, wo der Ultralibertäre Javier Milei im Dezember 2023 zum Präsidenten gewählt wurde. Warum ist der Fall Ihrer Meinung nach so wichtig?

Die Debatten in Argentinien sind interessant, weil niemand Mileis Wahlsieg voraussah und sich jetzt alle die Frage stellen, wie das passieren konnte. Offenbar haben die Etiketten nicht recht weiter geholfen. Hinter Milei steht nämlich weder eine faschistische Partei noch vertritt er eine faschistische Ideologie im engeren Sinne. Es handelt sich um etwas Eigenständiges. Ausgangspunkt seines Erfolgs war die Politisierung der Unzufriedenheit. Man könnte sagen: Wenn eine Transformationsperspektive, die mit der Linken assoziiert wird, scheitert, gibt es eine antilinke Reaktion. Der Peronismus ermöglichte ab 2003 wichtige Erfolge, aber die Inflation führte zuletzt zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Milei ist als radikaler Anti-Peronist aufgetreten, und deshalb haben vor allem junge männliche Wähler für ihn gestimmt.

Wie ist die Lage in Spanien? Die extreme Rechte bei Ihnen weist ja einige Besonderheiten auf. Beispielsweise ist die Vox-Partei extrem antirussisch und für die Nato. Was muss man noch über sie wissen?

Man muss zunächst begreifen, dass es in Spanien nie so etwas wie eine Entnazifizierung gab. Der Faschismus wurde nicht besiegt und konnte sich dementsprechend im Staat festsetzen – nicht eine einzige Person wurde wegen der Verbrechen der Diktatur angeklagt. Das prägt die politische Kultur der Staatsapparate bis heute. Charakteristisch für die spanische Rechte ist außerdem, dass sie an die Vorstellung des imperialen Spaniens und die »Reconquista« anknüpft, also an die Erzählung von der »Rückeroberung« Spaniens durch die katholischen Könige. Es gibt gewissermaßen zwei große andere: den Muslim, der jetzt als Migrant wiederkehrt, und die peripheren Nationen, die unter Franco massiven Widerstand gegen die Diktatur leisteten.

Trotz der faschistischen Kontinuität ist Spanien eines der wenigen Länder, in denen die extreme Rechte erfolgreich gestoppt werden konnte.

Das Wahlergebnis 2023 war sehr knapp. Im Vorfeld gingen alle davon aus, dass eine Koalition aus der Partido Popular (PP) und Vox gebildet würde. Und hier muss man betonen, dass Teile der konservativen PP, die von einem ehemaligen Minister Francos gegründet wurde, zur extremen Rechten gezählt werden müssen. Verhindert wurde diese Regierung, weil die Unabhängigkeitsbewegungen aus dem Baskenland, Katalonien und Galicien sich gegen die spanische Rechte stellen. Das ist für uns durchaus ein Widerspruch, denn unsere Bewegungen wollen Spanien eigentlich gar nicht gestalten, sondern verlassen. Andererseits ist unsere Priorität aber auch klar: Es gilt, den Faschismus in Europa zu stoppen. Und wir denken auch, dass sich die sozialdemokratische PSOE ein wenig bewegt hat. Anders als in den vergangenen Jahrzehnten spricht sie heute kritisch vom Neoliberalismus. Das eröffnet kleine Spielräume.

Sie haben bei einem Vortrag unlängst geäußert, wir sollten viel mehr über die Bedeutung der Sicherheitsapparate für den Rechtsruck sprechen.

Das Wahlergebnis von Vox in meiner Heimatstadt Pamplona illustriert das: Nirgends hat die extreme Rechte bessere Ergebnisse erzielt als in dem Wahlbezirk, in dem sich die Wohnkasernen der Guardia Civil und der Armee befinden. Wir beobachten diesen Zusammenhang auch in der Autonomiepolizei, die gegen die Regierung rebelliert und teilweise offen mit spanischen Rechtsextremen kooperiert. Und insgesamt kann man wohl behaupten, dass die Polizei bei der Verschärfung des Rassismus in Europa eine aktive Rolle spielt.

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Aber dann ist es ja doch nicht nur ein Problem eines mangelnden Bruchs mit der Diktatur. In Portugal, wo die Nelkenrevolution 1974 für einen Neuanfang sorgte, ziehen Polizeigewerkschaften mit der rechtsextremen Chega-Partei an einem Strang. Sollten wir die abolitionistische These, dass sich der Kampf gegen den Autoritarismus auch gegen die Polizei richten muss, ernster nehmen?

Die Frage wäre, was wir unter Abolitionismus verstehen. Also, ob damit gemeint ist, staatliche Strukturen insgesamt infrage zu stellen. Ich denke, dass es eine Demokratie ohne staatliche Strukturen nicht geben kann, weil ansonsten andere, ökonomische Mächte ihre Interessen durchsetzen. Wer Gegenmacht gegen ökonomische und faktische Mächte ausüben will, braucht institutionelle Strukturen. Aber wenn die Debatte darum geht, wie die Rolle einer Polizei beschränkt und ihre Gewaltmittel begrenzt werden können, gibt es sicherlich viele Gemeinsamkeiten mit abolitionistischen Positionen. In diesem Zusammenhang sollten wir auch begreifen, dass sich der Neoliberalismus nie gegen den Staat als solchen gerichtet hat. Er war ein Projekt zur Kolonisierung des Staates, durch das sichergestellt werden sollte, dass die popularen Klassen den Staat nicht länger als Instrument gegen die Märkte einsetzen können. Der Neoliberalismus hat Sozialstaatsfunktionen zerschlagen und Gewaltorgane ausgebaut. Wo er erfolgreich war, sind Repression, Bellizismus und Kriegsbereitschaft gewachsen.

Zum Faschismus gehören Parteiverbote und Folter. In Spanien gab es all das allerdings auch unter demokratischen Regierungen. Von der baskischen Untergrundorganisation ETA herausgefordert, baute die PSOE-Regierung in den 80er Jahren Todesschwadronen auf, die politische Morde verübten. Ein Jahrzehnt später verbot der »progressive« Richter Baltasar Garzón Zeitungen und Parteien. Wo verläuft die Grenze zwischen Faschismus und der Terrorbekämpfung eines liberalen Staates?

Die Grenzen zwischen Liberalismus und Faschismus sind ganz allgemein fließender als häufig angenommen. In unserer Geschichte zeigt sich das deutlich: Das liberale Großbritannien ermöglichte 1936 zunächst den Sieg Francos, indem es sich nicht auf die Seite der Republik stellte, und hielt die Diktatur dann nach 1945 an der Macht, weil man sie als Verbündeten gegen die Sowjetunion betrachtete. Die Hoffnung, dass sich Liberalismus und Faschismus fein säuberlich trennen lassen soll, ist trügerisch. In Wirklichkeit haben wir es oft mit Hybriden zu tun. Milei beispielsweise ist ultraliberal, aber gleichzeitig sehr katholisch. Die spanische Rechte teilt die Positionen des französischen Rechtsextremismus, aber ist sehr für die Nato. Und etwas Ähnliches gilt auch für die vermeintlich »antiimperialistischen« Projekte. Putins Russland weist viele extrem-rechte Merkmale auf, und auch über den Iran lässt sich wohl sagen, dass er in vielerlei Hinsicht die extreme Rechte in der islamischen Welt repräsentiert. Mit starren Kategorien werden wir nicht verstehen, was passiert.

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