Der scharfe Luftzug der Vernunft

»Busch singt« – die Kinofassung von Konrad Wolfs Dokumentarfilm auf DVD

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Star, unbestritten: Ernst Busch, der leidenschaftliche Sänger antifaschistischer Lieder.
Ein Star, unbestritten: Ernst Busch, der leidenschaftliche Sänger antifaschistischer Lieder.

Ein Ausgemergelter, eben noch von Nazis geschunden, sitzt am Rande eines Gehöfts bei Berlin. Befreit. Er wird bald, nach diesem Weltkrieg, Bürgermeister sein, dieser einsame, kleine Mensch. »Spielt noch einmal das Lied!«, bittet er die Sowjetsoldaten, die gleich abfahren werden. Vom rollenden Lkw das Lied, eine kratzende Platte. Ernst Busch besingt die spanische Jarama-Front. Dies Lied! Ein Pflaster auf Wunden, die nicht vernarben. Trotz und Gebet. Oder wie eine verzweifelte Saatlegung gegen das kälteste Grab, die Erinnerungslosigkeit.

Die Szene stammt aus Konrad Wolfs autobiografischem Defa-Spielfilm »Ich war neunzehn« (1968): der Weg des jungen Deutschen in der Uniform der Sowjetarmee, von Moskau bis Berlin. Wolf fügte sie ein in seinen Dokumentarfilm »Busch singt«, wir sehen den Regisseur am Ort des einstigen Geschehens: Hier hätte er damals Ernst Busch begegnen können, der aus dem bombardierten Zuchthaus Brandenburg geflohen war. Nazirichter hatten ihn wohl nur deshalb nicht zum Tode verurteilt, weil sie seine klassenkämpferischen Lieder nicht kannten. Und von berlinwärts drängenden Sowjetsoldaten war er auf seiner Flucht wohl nur deshalb nicht erschossen worden, weil einer von ihnen in diesem Abgerissenen und Aufgestöberten, der in seiner Angst zu singen beginnt, »Ernsta Busch« erkennt. Gewerkschaftshaus Moskau, das Konzert, 1935! Lebens- und Weltenlauf folgen einem Gesetz? Wie oft ist alles nur Zufall, der zur rettenden Fügung wird. Brecht fand dafür einen genialen Satz: »Die Situationen sind die Mütter der Menschheit.«

»Busch singt. Sechs Filme über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts« (1981/82) war der letzte Film des 1982 gestorbenen Konrad Wolf; er lief im DDR-Fernsehen, nun gibt es die DVD einer zweiteiligen Kinofassung – jene beiden Kapitel, bei denen Wolf, Leiter des gesamten Projekts, selbst Regie führte. Nur ein Fragment, denn leider hat das umfangreiche Dokumentarmaterial in Sachen Urheberrechte ein undurchdringliches Labyrinth geschaffen.

Im DVD-Begleitbuch porträtiert Jürgen Schebera den Sänger, er übersetzt die Dramaturgie des Films in eine Busch-Lebensskizze (»Der da singt, weiß, wovon er singt«). Regieassistentin Carmen Bärwaldt, die vor wenigen Wochen verstarb, erzählt im ausführlichen Gespräch mit der Musikforscherin Carola Schramm das Credo Konrad Wolfs. Sie sagt den schönen Satz: »Die Arbeit hat mich auch den Unterschied zwischen Gut und Böse leichter erkennen lassen und mich dann vor mancher Niederung in Nachwendezeiten bewahrt.« Hans-Eckardt Wenzel steuert starke Essay-Literatur über den Zorn in der Kunst bei: »Jedes Aufbegehren, soll es mehr sein als ein Affekt, braucht einen Himmel, nach dem es sich sehnen kann, ein Firmament, das mehr verspricht, als im Moment der Empörung formulierbar ist.«

Teil 1, »1935 oder Das Fass der Pandora«, schneidet Wochenschau-Berichte eines Jahres zu einem aufgepulverten deutschen Panorama. Der Furor der Fabriken. Das Heil-Brüllen der Horden. Rausch und Rummel und die Agonie der Armen. Die reaktionäre, kriegszugewandte Struktur der Arbeit erschafft den Ameisenmenschen in Drillich und Uniform. Busch singt sich dazwischen, als spanne sich ein Stahlseil: sarkastisch, peitschend. Kampflied, Kabarett und Klage, von Kästner bis Mühsam. Brecht spricht weh und leise sein so bitteres, weises Gedicht »An die Nachgeborenen«. Busch singt dessen Vertonung, eine bezwingende Eisler-Komposition.

Brecht, immer wieder Brecht. Aus guten Gründen. Gedacht werden darf an Martin Walser, der schrieb, das Christentum aller Kirchenversionen sei im 20. Jahrhundert nur noch »eine Lippengebetsreligion zur Ertötung aller praktischen Bedürfnisse. Der Marxismus dagegen schien es ernst zu nehmen mit der Praxis«. Es sei lächerlich, so Walser, »wenn heute irgendeiner, der auf dem Bizeps bürgerlicher Herrschaft sein hübsches Nest hat, jenem Brecht einen Parteidienst vorwirft. Hundertfach sind seine Dialektik-Verherrlichungen, und sie heißen einfach: Sprechen darf nur, wer hört. Lehren darf nur, wer lernt«. In diesem Sinne ist auch das Singen ein Lehren.

Teil 2, »Ein Toter auf Urlaub«, verfolgt den Weg Buschs von Hitlerdeutschland nach Moskau, Spanien und Frankreich. Konrad Wolf an Stationen des Sängers. Fluchten, die in nazistischer Haft enden. Busch bohrt Brechts Frage in uns hinein: »Was muss über die Menschen gekommen sein?« In einer Sequenz des Films zeigt Bildhauer Fritz Cremer die Totenmasken hingerichteter Widerstandskämpfer, es ist ihm Inspiration, dieses ewige Memorial an der Wand seines Ateliers.

Hans-Eckardt Wenzel schreibt, Busch beerbe den Duktus der »Freibeuter der Meere«, eine Rasanz an Energie, verflochten »mit den irdischen Bedingungen«. Diese Stimme beherrscht alle Balancen zwischen Expressivität und Sparsamkeit. Es ist ein scharfer Luftzug Vernunft zu spüren, etwas Schneidendes, das jedes Pathos noch an seiner rührendsten Stelle kluggefühlt bricht. Brennend wie Eis. Man wird diesen Sänger immer hören mögen, wenn man empfinden will, wie das ist mit der Sinnlichkeit eines einleuchtenden Gedankens. Diese Lieder sind keine knienden Gemüter, sie sind bissige Kraft, mitunter plötzlich eine unfassbar weiche Explosion. Stoff und Stimme verkörpern jenes Ideendrama, das der Gattung ein neues Lichtbewusstsein verspricht. Was ja heißt, dass Kunst ins Helle zielen muss, in die unbestechliche Aufklärung über gesellschaftsgemachte Barbarei.

Antifaschismus musste man einem Ernst Busch nicht verordnen. Das hat die Erfahrung ausgiebig getan. Wie auch bei Konrad Wolf. So bekräftigt der Film, dass Güte Kampf bedeutet und Haltung einen Preis hat. Dieses 20. Jahrhundert: Sehnsucht zog die Seelen, Ideologien trieben den Geist, der Krieg stieß die Körper. Wäre Buschs Singen ein Mensch, dann wäre dieser Mensch, in fühlendem Geist mit den Schwachen, ein tief Getroffener, der das Herz der Gattung reißen sieht, so dünn ist die Haut, und dahinter kommt stets auch die Bestie zum Vorschein.

Der wahre Künstler ist unglücklich. Er sieht die Risse im Bau. Hin zur Verkündigung muss er durch den Verlust. Wir schauen ins Mutgesicht des proletarischen Kampfes, spüren den Hoffnungsgrund in Wolfs Filmkunst – und wissen doch, beim Blick in die Welt: Der überspannte Enthusiasmus der Menschenliebe muss immer wieder durchs Feuer der Enttäuschung. Ein Fluch, aber: Kunst schafft das kräftigende Empfinden, aller Schmerz sei lebbar, ihm sei etwas entgegenzusetzen. Buschs Singen gehört dazu.

Erschütternde Szenen: Schriftsteller Konstantin Simonow rezitiert sein Gedicht »Der Deutsche«. Wir sehen, hören Ernst Busch, und wir sehen und hören andere Deutsche. Erst Grölen, dann russischen Schnee im Mund. Dieser Schnee fiel nicht, er setzte sich in Bewegung, eine zweite Front gegen die Faschisten, von oben. Jetzt tastet die Kamera, unerträglich lange, eine Reihe sowjetischer Soldaten ab, junge Männer, kurz vorm Weg an die Front. Es ist der kommende Tod, der die Kamera führt. Diese Augen, die dich anschauen! Sie weisen dir nichts zu, sie klagen nicht an, aber sie fragen: Wie fühlt es sich an, verschont geblieben zu sein? Und was macht diese Frage aus deinem Leben? Die Antwort zielt, wie alle wahrhaftige Geschichtsbeschreibung, nicht auf das, was war. Sie zielt auf das, was ist.

»Busch singt«. Defa-Kinofassung auf DVD. 124 min. Hg. v. Defa-Stiftung, Ernst-Busch-Gesellschaft, Friedrich-Wolf-Gesellschaft; Begleitbuch Edition Bodoni, DVD und Buch 34 €.

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