Israel und Hamas: Waffenstillstand im Nahen Osten

Gespräche in Katar: Einigung zu einer sechswöchigen Waffenruhe in Nahost

Ein propalästinensischer Demonstrant protestiert gegen US-Außenminister Antony Blinken vor dem Atlantic Council in Washington.
Ein propalästinensischer Demonstrant protestiert gegen US-Außenminister Antony Blinken vor dem Atlantic Council in Washington.

Bei Verhandlungen über ein Ende des 467 Tage andauernden Krieges im Gazastreifen scheint ein Durchbruch gelungen zu sein. Vermittler aus Ägypten, den USA und dem Gastgeberland Katar hatten mit Delegationen aus Israel und der Hamas in getrennten Gesprächen einen Vorschlag unterbreitet, der bereits im Mai letzten Jahres bis ins Detail ausgearbeitet worden war. Demnach soll mit Beginn eines Waffenstillstands ein in drei Phasen aufgeteilter Austausch von israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen beginnen.

Damals hatten US-Außenminister Antony Blinken und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu der Hamas vorgeworfen, im letzten Moment einen Rückzieher gemacht zu haben. Die Hamas-Führung beklagte, dass Israels Premier Netanjahu mit immer neuen Forderungen ein Ende der Kämpfe verhindern wolle.

33 Geiseln gegen 1000 Gefangene

Am Dienstag erfuhr die Nachrichtenagentur AP aus Verhandlungskreisen in Doha, dass beide Seiten dem Abkommen nun prinzipiell zugestimmt hätten. Am Mittwochabend nun kam laut Medienberichten die Einigung. In den ersten 42 Tagen sollen 33 weibliche, minderjährige und kranke israelische Geiseln im Austausch für 1000 inhaftierte Palästinenser freigelassen werden. Israelische Soldaten sollen sich nur noch in zwei Korridoren und in einer 1,5 Kilometer breiten »Sicherheitszone« an der Grenze zu Israel aufhalten dürfen.

Über 600 Lastwagen mit Hilfslieferungen sollen die über zwei Millionen Hunger leidenden Bewohner des völlig zerstörten Gazastreifens täglich versorgen. In der zweiten Phase sollen dann die übrigen Geiseln freigelassen werden. Die Leichen der verstorbenen Entführten würden in der dritten Phase übergeben. Am Donnerstag muss das israelische Parlament der Waffenruhe noch zustimmen.

Israel fliegt schwere Luftangriffe

TV-Sender und Journalisten haben bereits ihre Kameras für die Live-Berichterstattung über die offizielle Verkündung des Abkommens vor dem Parlament in Jerusalem und Krankenhäusern in Gaza positioniert. Doch internationale Beobachter zeigen sich noch mehrheitlich skeptisch. Zu oft hatte die scheidende Regierung von US-Präsident Biden im vergangenen Jahr einen Durchbruch der Verhandlungen vermeldet. Diese Skepsis scheint nun hinfällig geworden zu sein.

Im Gazastreifen sieht man ausgerechnet die vielen Luftangriffe der vergangenen Tage als Hinweis darauf, dass sich die israelische Armee bald aus weiten Teilen des 40 Kilometer langen und bis zu 14 Kilometer breiten Gebietes zurückziehen könnte. Bei schweren Bombardierungen auf die Orte Khan Junis und Deir Al-Balah kamen laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium mindestens 24 Zivilisten ums Leben. Damit steigt die Zahl der seit dem 7. Oktober 2023 getöteten Palästinenser auf 46 407.

Abkommen wäre schon früher möglich gewesen

Ein Journalist aus Gaza erinnerte daran, dass die israelische Luftwaffe auch im Südlibanon die letzten Stunden vor Beginn des Waffenstillstands mit der Hisbollah für die schwersten Bombardierungen seit Beginn der Kämpfe genutzt habe.

Professor Hassan Barari von der Universität in Doha glaubt nicht, dass es die immer dramatischere Unterversorgung der mehrheitlich in Zelten lebenden Palästinenser ist, die zu Kompromissbereitschaft geführt hat. »Netanjahu hätte schon vor einem halben Jahr dem Abkommen zustimmen können«, so Barari zum »nd«. »Aber er setzte auf einen Abnutzungskrieg gegen die Hamas. Doch die täglich durch die Guerilla-Taktik der Hamas verwundeten und getöteten israelischen Soldaten machen den Krieg nun zu einer Belastung.«

»Ich habe mehrere Waffenstillstände verhindern können.«

Itamar Ben Gwir 
Minister für die Nationale Sicherheit Israels

Ausschlaggebend für Netanjahus Zustimmung war nach Meinung israelischer Medien ein Gespräch mit Donald Trumps Nahost-Koordinator Steve Witkoff. Am vergangenen Wochenende war Witkoff für ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Premier nach Jerusalem gereist. Witkoff ließ offenbar keinen Zweifel daran, dass der Krieg beendet sein müsse, bevor Donald Trump am 20. Januar seinen Amtseid leisten wird.

Vor welcher Zerreißprobe die israelische Gesellschaft nun steht, kündigte sich am Dienstag an. In Tel Aviv forderten Tausende Israelis ein Abkommen mit der Hamas und die Freilassung der 98 in Gaza festgehaltenen Geiseln. Zeitgleich gingen in Jerusalem Anhänger von Sicherheitsminister Itamar Ben Gwir und Finanzminister Bezalel Smotrich auf die Straße.

Radikale wollen Krieg weiterführen

Die radikalen Nationalisten wollen den Krieg weiterführen. Der in Kirjat Arba, einer Siedlung im Westjordanland, lebende Ben Gwir kündigte mehrmals an, die aus dem Norden des Gazastreifens vertriebenen Palästinenser durch jüdische Siedler zu ersetzen. Smotrich fördert die Expansion jüdischer Siedlungen in der Westbank mit Geld, das für Schulen und Infrastruktur in Israel gedacht war. Das Ende des Krieges dürfte die Konflikte innerhalb der Regierungskoalition wieder aufleben lassen.

Smotrich und Ben Gwir sind zwar seine Koalitionspartner, kündigten im letzten Jahr aber mehrmals an, die Regierung zu verlassen, sollte es zu einem Deal mit der Hamas kommen. »Ich habe mehrere Waffenstillstände verhindern können«, prahlte Ben Gwir vor seinen Anhängern.

»Keine Lösung des Problems«

Norwegens Außenminister Espen Barth Eide forderte die internationale Gemeinschaft auf, umgehend einen Plan für die Verwaltung und den Wiederaufbau von Gaza zu erarbeiten. »Ein Waffenstillstand ist ein nur erster Schritt, keine Lösung des Problems«, so Eide.

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