»Großisrael«: Das Ziel ist territoriale Ausdehnung

Auch in Israel zeigen sich Faschisierungsprozesse. »Großisrael« soll Realität werden

Eviatar: Jüdische Siedler beten im Außenposten Eviatar im israelisch besetzten Westjordanland und fordern die Legalisierung des Außenpostens.
Eviatar: Jüdische Siedler beten im Außenposten Eviatar im israelisch besetzten Westjordanland und fordern die Legalisierung des Außenpostens.

Daniella Weiss steht mit einem Reporter der israelischen Zeitung »Haaretz« auf einer Anhöhe im ländlich gelegenen Kedumim und deutet in verschiedene Himmelsrichtungen. Ihre Finger weisen über die Grenzen der illegalen israelischen Siedlung im Westjordanland hinaus und zeigen auf zwei von dort nicht sichtbare Flüsse. Sie liegen mehr als 1000 Kilometer weit voneinander entfernt. Daniella Weiss möchte das Land haben, das dazwischen liegt. »Ich will für das jüdische Volk das Gelobte Land aus der Bibel haben. Vom Euphrat bis zum Nil. Ich bin mir sicher, dass es so kommen wird.« Was dann mit dem Südlibanon passiere, fragt der Reporter in der Videoreportage, die 2019 erschienen ist. »Der ist Teil davon, alles! Sogar Teile Syriens, Iraks und Irans. Es ist riesig!« Was auch sechs Jahre nach dem Interview noch nach den wahnwitzigen Illusionen isolierter Fanatiker klingt, wird mittlerweile offen von Ministern der Regierung vertreten, mit denen Weiss bestens vernetzt ist.

Sie ist eine führende Figur in der israelischen »Siedlerbewegung« und Gründerin der radikalen Siedler-Organisation Nachala – Erbe oder Erbbesitz auf Deutsch. Der Name unterstreicht den biblisch begründeten Anspruch: Das Land ist von Gott versprochen, es gehörte uns damals, es gehört uns heute. Die Organisation arbeitet seit fast 20 Jahren auf die Annexion des Gazastreifens und des Westjordanlands hin, um das »Gelobte Land« zu errichten. Es ist eine Lobbygruppe für religiöse Fanatiker, die auf ein »Großisrael« hinarbeiten. Dabei handelt es sich um eine Ideologie, die – je nach biblischer Herleitung – auf Gebietsansprüchen für Israel in verschieden großen Ausdehnungen fußt. Exklusiv für das jüdische Volk. Doch wie einflussreich können Menschen schon sein, die heute noch von antiken heiligen Ländern als politischer Realität sprechen? Welche Gefahr kann von einer Ideologie ausgehen, deren Anhänger*innen biblische Gottesversprechen eingelöst sehen wollen? Der Iran zeigt, dass sich ein religiös begründeter Faschismus seit fast fünf Jahrzehnten in einem großen Land halten kann. In den USA haben nicht zuletzt einflussreiche evangelikale Hardliner Donald Trump als Präsidenten möglich gemacht, die seit Jahrzehnten an der Errichtung eines christlichen Gottesstaats arbeiten. Und in Israel gewinnt die »Großisrael«-Ideologie an Boden. Der Einfluss von Organisationen wie Nachala wächst.

Was nicht sein darf: Unrechtsstaat Israel

In Deutschland, das historisch vor allem Erfahrungen mit biologistisch begründetem Faschismus hat, scheint diese Ideologie als wenig bedrohlich empfunden zu werden, wenn sie überhaupt bekannt ist. Das zeigt beispielhaft der Vortrag der Journalistin Charlotte Wiedemann an der Leuphana-Universität in Lüneburg vergangene Woche, wo sie über den wachsenden Einfluss rechtsextremer Strömungen und Politiker*innen in Israel sprach und den fundamentalreligiösen Einfluss in der Politik aufzeigte. Es würde ihr aber das Herz brechen, als Deutsche diesen Staat faschistisch zu nennen. Als könne nicht sein, was nicht sein darf: dass sich die nach der Shoah in Palästina errichtete jüdische Heimstätte zu einem Unrechtsstaat entwickeln könnte. Dabei hat sie die Faschisierungsprozesse selbst herausgearbeitet: das ungleiche Rechtssystem für Israelis und Palästinenser*innen, den Siedlerextremismus im Westjordanland, die genozidale Sprache von Militärs und Politiker*innen gegenüber den Menschen in Gaza, die Arbeit von Forschenden, die die Gefahr eines aufziehenden Klerikalfaschismus sehen. Den Reaktionen nach schien mehreren Zuhörenden – darunter Professor*innen – vieles davon unbekannt zu sein. Ein Teilnehmer fragte gar, weshalb sich arabische Staaten denn von einem Großisrael bedroht fühlen müssten, sich der geopolitischen Sprengkraft dieser Ideologie gänzlich unbewusst.

Herrscht in Deutschland eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung Israels und der Realität, die sich dort in den vergangenen Jahren entwickelt hat? Der autoritäre Umbau des Staates findet unter den Regierungskoalitionen Benjamin Netanjahus schon seit vielen Jahren statt: 2018 wurde das seit 2011 vorbereitete Nationalstaatsgesetz erlassen, das dem Arabischen den Status der Amtssprache entzog, den exklusiv jüdischen Charakter des Staats festschrieb und festlegte, dass das Recht auf nationale Selbstbestimmung einzig für das jüdische Volk gilt. 2023 wurde ein Gesetz erlassen, das die Absetzung des Ministerpräsidenten fast unmöglich macht. Das ist wichtig für Netanjahu, gegen den Korruptionsverfahren laufen. Dann folgte die Justizreform, mit der es möglich gewesen wäre, richterliche Beschlüsse durch eine einfache Parlamentsmehrheit außer Kraft zu setzen. Das käme dem Ende der Gewaltenteilung gleich. Zumindest das wurde jedoch vorerst durch das Oberste Gericht gestoppt. Und schließlich nahmen im aktuellen Kabinett Menschen Ministerposten ein, die offen eine territoriale Ausdehnungspolitik betreiben wollen – biblisch begründet.

Verschiedene, aber nicht alle Vertreter*innen des politischen Zionismus vertraten diese Idee eines »Großisrael« seit dem 19. Jahrhundert. Je nach biblischer Auslegung oder realpolitischen Gegebenheiten wurden unterschiedliche Modelle und Ansprüche formuliert. Nach der Staatsgründung Israels hatten dessen Anhänger*innen mal mehr, mal weniger Einfluss auf die Politik. Cherut, die Vorgängerpartei der heutigen Likud, war bis 1967 quasi die einzige relevante Partei, die diese Haltung vertrat. Aufwind für die Ideologie in Politik und Gesellschaft kam durch den Sechstagekrieg, als Ostjerusalem, die syrischen Golanhöhen und das Westjordanland unter israelische Kontrolle kamen – bis heute nach internationalem Recht illegal besetzt. Auch der Likud-Block versprach Ende der 70er Jahre, dass es zwischen Meer und Jordan nur eine israelische Staatlichkeit geben werde.

In den 80er Jahren wurden Vertreter*innen einer solchen israelischen Ausdehnungspolitik vom politischen Establishment noch boykottiert. Dazu gehörte etwa die radikale Kach-Partei. Gleichzeitig aber hatte es unter allen israelischen Regierungen Siedlungstätigkeiten in den von diesen Kräften beanspruchten Gebieten gegeben – auf dem Golan, im Westjordanland, in Gaza und auf dem ägyptischen Sinai.

Terroristen als Minister

Heute werden diese radikalen religiösen Fanatiker nicht mehr vom politischen Establishment boykottiert, sie sind es selbst: Der bis vor Kurzem noch amtierende Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, war Mitglied der erwähnten Kach-Partei, die in den 90er Jahren verboten und als Terrororganisation eingestuft wurde. Die rechtsextreme Partei propagierte »Großisrael« und verübte Anschläge auf Palästinenser*innen. Ben Gvir selbst wurde 2007 wegen rassistischer Hetze und Unterstützung einer Terrororganisation verurteilt. Noch 2021 bedrohte er Palästinenser*innen mit einer Pistole. Wenig später ist er als Verantwortlicher der Grenzpolizei im Westjordanland aktiver Teil des Besatzungsregimes und lebt selbst dort in der illegalen Siedlung Kiryat Arba.

Dass die Ziele von Nachala schon lange keine isolierte Radikalenforderungen mehr sind, zeigen die Verbindungen in höchste Regierungskreise. Benjamin Netanjahus Likud-Partei veranstaltet gemeinsame Veranstaltungen mit der Organisation, auf denen regelmäßig Minister der Koalition sprechen – so auch Ben Gvir, der auf einer Siedlerkonferenz im Oktober in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen dessen ethnische Säuberung forderte. »Wir sagen ihnen: ›Wir geben euch die Möglichkeit, das Land zu verlassen und in andere Länder zu gehen. Eretz Yisrael Shelanu – Das ist unser Land Israel!‹« Ein Kampfbegriff der israelischen Rechten, der in diesem Zusammenhang oft als Synonym für »Großisrael« benutzt wird. Auch Finanzminister Bezalel Smotrich nahm dort zum wiederholten Mal teil und verkündete, Gaza sei »Teil des Landes Israel«. Der militärische Sieg dort, so Smotrich, müsse erreicht werden, um »Gaza zu besiedeln.« Darum geht es ihm nicht nur als bloßes Kriegsziel. Die Besiedlung ist Teil größerer Ambitionen. Ebenfalls im Oktober sprach er mit dem Sender Arte und erklärte auf die Frage, ob Israel über seine derzeitigen Grenzen hinausgreifen würde: »Absolut. Stück für Stück. Unsere alten religiösen Führer sagen, dass die Zukunft Jerusalems darin liegt, sich bis nach Damaskus auszubreiten.« Smotrich vertritt eine Maximalvision »Großisraels«, das von den palästinensischen Territorien, über Jordanien, den Libanon, bis nach Syrien reichen soll und Teile Ägyptens und Saudi-Arabiens einschließt.

Es geht um nicht weniger als die komplette Neuordnung des sogenannten Nahen Ostens.

Als Regierungsmitglied hat er dafür gesorgt, dass er diesem Ziel bereits zwei Schritte näher ist: Zum einen hat er Netanjahu dazu gebracht, ihm die zivile Verantwortung über das Westjordanland zu übertragen. Er leitet eine neue Behörde, die an das Verteidigungsministerium angedockt ist und dem das Militär vergangenes Jahr weitreichende rechtliche Befugnisse zur Kontrolle des Westjordanlands übertragen hat. Damit sei Smotrich faktisch dessen Gouverneur, die Annexion des besetzten Gebiets praktisch vollzogen, so NGOs und Völkerrechtsexpert*innen. Zum anderen dürfte er seine Macht, die Regierungskoalition mit seinem Rücktritt sprengen zu können, bei den Verhandlungen zur Waffenruhe in Gaza genutzt haben: Er behauptete, Netanjahu habe ihm zugesichert, Gaza zu besetzen. Das dürfte der Grund sein, weshalb er noch in der Regierung verbleibt und der Aufforderung Ben Gvirs, diese mit ihm zu verlassen, nicht gefolgt ist.

Mit Leuten wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir ist die Gefahr nach dem Griff nach »Großisrael« gefährliche Realität geworden. Auch Benjamin Netanjahu selbst hat in den vergangenen 20 Jahren darauf hingearbeitet, einen palästinensischen Staat unmöglich zu machen. Zwischen »River« und »Sea« soll es nur den Staat Israel geben. »Großisrael« ist eine Ideologie, die über Jahrzehnte an Einfluss in Politik und Gesellschaft gewinnen konnte und so die aktuelle Kriegsführung beeinflusst, die zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat. Es geht um nicht weniger als die komplette Neuordnung des sogenannten Nahen Ostens.

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