Hans-Otto-Theater: Carl alleine in der DDR

Am Hans-Otto-Theater in Potsdam wurde Lutz Seilers preisgekrönter Roman »Stern 111« adaptiert, aber Literatur und Bühne bleiben sich fremd

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Irgendwie weit weg: Carl Bischoff (Paul Wilms) in der Bühnenfassung von »Stern 111«
Irgendwie weit weg: Carl Bischoff (Paul Wilms) in der Bühnenfassung von »Stern 111«

Der Schriftsteller wirkt bescheiden, gar scheu. Lutz Seiler – Büchnerpreisträger, Suhrkamp-Autor und einer der ganz wenigen, die es schaffen, anspruchsvolle Romane zu schreiben und trotzdem auf den Bestsellerlisten zu landen – mutet sympathisch deplatziert auf der Bühne an. Lange beklatscht er beim Applaus die anderen, bevor das Ensemble ihn dann doch in Richtung Rampe zieht, wo er sich zaghaft und ungelenk vor dem Potsdamer Publikum verbeugt. Der Abend ist in diesem Moment schon gelaufen und enthält ihn doch in nuce, enthält sein Missverständnis.

Die Literatur und das Theater bleiben sich hier fremd, sie würden gerne zueinanderkommen, aber die Distanz ist zu groß. Was für eine Seltsamkeit! Ein Medium wie die Bühne, mit einer jahrhundertelangen Erfahrung darin, Geschriebenes in Körper, in Klang, in Raum, in Bewegung zu bringen, scheitert Mal um Mal an dieser Aufgabe. Woran liegt es an diesem Freitag, dem Premierenabend, da sie am Hans-Otto-Theater Seilers mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman »Stern 111« herausbringen? Zuallererst an Mut. Zwar folgt die von Regisseurin Esther Hattenbach und Dramaturgin Bettina Jantzen erstellte Fassung lediglich »Motiven des Romans von Lutz Seiler«, eine emanzipierte souveräne Theaterarbeit ist gleichwohl nicht zu erkennen.

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Die Musiker Johannes Bartmes und Michael Koschorreck, die auf einem Gerüst über dem Geschehen thronen, begleiten den Abend zwar an Keyboard, Percussions und Gitarre und weisen damit in eine interessante Richtung: Könnte das nicht ein Stoff für ein musikalisch-schauspielerisches Gesamtkunstwerk sein, vielleicht gar für ein Musical? Die Frage wird jedoch mit einem ganz klaren »Hmm, weiß nicht« beantwortet. Statt offensiv Szenen, Themen und Stimmungen zu verbinden, verlegen sie hier nur einen Klangteppich, auf dem das Ensemble dann herumrutscht.

»Stern 111« erzählt in zwei Strängen von der Wendezeit: Carl, ein junger Maurer mit schriftstellerischen Ambitionen, erhält kurz nach dem Fall der Mauer von seinen Eltern die Aufgabe, ihr Haus in Gera zu übernehmen, während sie selbst ein neues Leben im Westen suchen. Dort warten Sammelunterkünfte, persönliche Erniedrigungen und die mal glücklicheren und oft schlimmen Erfahrungen mit dem real existierenden Kapitalismus auf sie. Carl seinerseits hält es nicht lange in Thüringen aus und flüchtet nach Ost-Berlin, wo er Asyl in der Hausbesetzerszene findet, an seinen Gedichten arbeitet und die Liebe sucht.

Abwechselnd verfolgt das Publikum also diese beiden Gruppen durch die Wendewirren: die anarchischen Künstler und Spätproletarier um Carl einerseits, die aus der Weltrevolution, die sich an der Spree ereignet, den Schluss ziehen, dass es das Wichtigste ist, hier und stehen zu bleiben, ein Haus zu verteidigen, selbst wenn die Räumungskommandos anrücken. Und andererseits die sympathisch-naiv wirkenden Eltern, die sich, an den Karl Roßmann in Kafkas Fragment »Amerika« erinnernd, durch nichts erschüttern lassen, einfach immer auf eine Zukunft für sich hoffen – und dann doch tatsächlich in die USA aufbrechen.

Die Szenen mit Franziska Melzer und Philipp Mauritz gehören zu den besten an diesem dreistündigen Abend. Es rührt an, wie die beiden mit Regenjacken und Tornistern aufbrechen, wie Mauritz amüsiert von den Zuständen im Flüchtlingsheim erzählt oder Melzer tapfer mitlacht, wenn ihre Inge von Dorfbewohnern aus dem Westen verspottet wird. Die Geschehnisse in Berlin fallen dagegen deutlich ab. Carl, von Paul Wilms gespielt, bleibt einem fremd, zusammen mit den anderen Hausbesetzern ist er mehr Symptom als Charakter, ist in wechselnden Phasen ganz Nervosität, ganz Manie, ganz Depression. Er tigert über die Bühne, hetzt rastlos hin und her, brütet dann vor sich hin.

Der Epochenumbruch treibt ihm den Schweiß auf die Stirn, immer wieder streicht er sich durch das fettige Haar, jammert, tanzt, säuft, lässt sich auf seine Matratze fallen. Rein äußerlich wirkt das. Anders als im Handlungsstrang der Eltern kommt keine Sympathie, nicht einmal Verständnis für Carl und seine Leute auf. Und so ist es einem dann auch ein bisschen egal, als der Sohn sich bitterlich bei den Eltern beklagt, von den beiden nie wirklich beachtet worden zu sein. Was wäre ihnen vorzuwerfen? Da ist nicht viel zu sehen, nicht viel Fleisch, nicht viel Blut an diesem Hausbesetzer. Das ins Weltpolitische gesteigerte Gefühl von Jugend und Freiheit wirkt hier rasch herbeizitiert, als hätte es keine realen Vorbilder gegeben, als wäre es nie empfunden worden, sondern immer nur dargestellt.

Nächste Vorstellungen: 9., 16. und 28. Februar
www.hansottotheater.de

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