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Der Abschied ist Alltag

Sektion Forum: »Time to the Target« von Vitaly Mansky entlarvt den Krieg

  • Interview: Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Wie viele junge Männer müssen noch sterben?
Wie viele junge Männer müssen noch sterben?

Ihr neuer Film heißt »Time to the Target«, »Zeit bis zum Ziel«. Was bedeutet das – auch in Bezug auf Lwiw?

Seit Beginn des Krieges und nach allem, was in der Ukraine passiert ist, haben wir eine neue Zeitmessung: die Zeitspanne zwischen dem Abschuss einer Rakete und ihrem Einschlag. Früher haben wir in Jahren, Monaten und Tagen gerechnet. Heute wissen wir, dass eine in Russland abgeschossene Rakete fünf Minuten und 40 Sekunden braucht, bis sie in Lwiw einschlägt. Das ist die Zeit, von der wir wissen, dass danach wieder jemand tot sein kann.

Sie zeigen die Realität des Krieges, die auch im Westen der Ukraine täglich spürbar ist. Was Sie jedoch auch zeigen, sind Menschen, die im sommerlichen Lwiw auf den Straßen unterwegs sind und das Leben genießen. Hatten Sie von Anfang an die Idee, das Spannungsfeld zwischen Alltag und Krieg erfahrbar zu machen?

Ja, das war die Kernidee. Ich wollte zeigen, wie der Krieg in den Blutkreislauf der Stadt eindringt und den Alltag der Menschen infiziert. Ich wollte zeigen, wie sich langsam alles ändert und der Krieg Normalität wird.

Wie offenbart sich, dass der Krieg Normalität wird?

Jeden Tag stoppt das Leben in der Stadt für Beerdigungszeremonien, manchmal zweimal am Tag. Es gibt Plakate in der Stadt, die Fotos von Männern zeigen, die gestorben sind. Diese Plakate werden jeden Tag ausgewechselt. Ein Beispiel: Eine Kellnerin beeilt sich, jemandem heißen Kaffee zu bringen, als ein Leichenzug vorbeizieht. Sie hält für diesen Moment inne und setzt dann ihren Weg fort. Als der Kaffee auf den Tisch kommt, ist er noch nicht einmal abgekühlt ... Alles geht seinen Gang. Diese kurzen Momente des Abschieds sind nichts Außergewöhnliches mehr. Sie sind ein Teil des Alltags geworden.

Interview

Vitaly Mansky wurde 1963 in Lviv in der heutigen Ukraine geboren und studierte am Gerassimow-Institut für Kine­ma­to­grafie in Moskau. Er hat bei mehr als 30 Dokumentarfilmen Regie geführt und inter­natio­nale Aus­zeich­nungen erhalten. Seit 2011 lebt er in Lett­land und hat dort das Inter­natio­nale Doku­mentar­film­festival »Art­doc­fest/Riga« ins Leben gerufen. In seinem neuesten Doku­mentar­film »Time to the Target«, der in der Sektion Forum der Berlinale Premiere feiert, begleitet er Menschen in seiner Heimatstadt Lwiw durch den Krieg.

Der Alltag berührt Probleme, die sich hinter den Kulissen des Krieges abspielen: Gibt es genug Platz auf dem Friedhof? Wer soll all die neuen Gräber schaufeln? Die Totengräber von Lwiw gehören zu den Protagonisten des Films.

Wenn ich Filme mache, dann öffne ich mich für alles, was mir begegnet. Es gibt kein festes Drehbuch, keine Notwendigkeit eines Szenarios. Die Totengräber sind von selbst in den Film gekommen. Irgendwie haben sie meine Aufmerksamkeit erregt – wegen ihrer Haltung und ihrer Geschichten.

Auch das örtliche Militärorchester spielt eine zentrale Rolle im Film. Wie sind Sie darauf gekommen, die Musiker*innen zu begleiten?

Ich dachte, ich kenne meine Stadt sehr gut. Nach Ausbruch des Krieges war ich oft dort und dachte, ich würde vertrauten Gesichtern begegnen. Aber jedes Mal sah ich andere Menschen bei den Beerdigungen, die ich besuchte – außer diesen Musiker*innen. Das waren die einzigen Gesichter, die sich nicht änderten. Selbst die Soldaten, die die Särge trugen, wechselten. Ich dachte, es muss unmöglich sein, emotional zu verkraften, Hunderte Beerdigungen zu besuchen. Auf diese Weise begann ich, mich für die Musiker*innen zu interessieren und mit ihnen zu sprechen. Dann habe ich mich an die Bodentruppen der Armee gewandt und die Erlaubnis bekommen, sie zu porträtieren.

Die offizielle Erlaubnis ist das eine, das Einverständnis der Musiker*innen das andere. Wie haben Sie sich ihnen angenähert?

Ich habe anderthalb Jahre lang viele Stunden mit ihnen verbracht. Wir haben über alles gesprochen, über unser Familienleben und auch über Russland. So haben wir gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Es gibt Dinge, die sie nicht im Film haben wollten. Das habe ich natürlich respektiert.

Wie haben sich Ihre Protagonist*innen und die Stimmung in der Stadt in den anderthalb Jahren verändert?

Wir sehen zum Beispiel, dass es plötzlich keinen Platz mehr auf dem Friedhof gibt. Alles ist voller Gräber. Bei den Beerdigungen waren mehr und mehr Frauen und immer weniger Männer. Am Anfang gab es diesen großen Aufruf zum Gegenangriff. Dann waren alle aufgewühlt, weil das nicht geklappt hat. Später wurden sich die Menschen der vielen Verluste auf ukrainischer Seite bewusst. Natürlich hat sich die Stimmung in der Stadt verändert. Aber das möchte ich ungern beschreiben. Das Wichtigste liegt jenseits von Worten. Deshalb möchte ich, dass die Zuschauer*innen meinen Film selbst sehen und dabei fühlen können, was passiert.

Sie stammen aus Lwiw. Wie fühlt es sich als Filmemacher an, einen Film über einen Ort und Menschen zu machen, die Ihnen persönlich so nahestehen?

In der Zeit, die ich in Lwiw verbrachte, habe ich an Hunderten Beerdigungen teilgenommen. Meistens Beerdigungen von Männern, die jünger waren als meine Töchter. In der Kirche nebenan habe ich meine Kinder taufen lassen und meine Frau geheiratet. Ich habe jeden Tag meine Tränen versteckt. Es war unerträglich.

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Sie haben selbst lange in Russland gelebt und gearbeitet. Was bedeutet der Konflikt für Sie als Filmemacher?

Es handelt sich um einen Krieg, nicht um einen Konflikt. Da müssten wir präzise sein. Ich habe Russland direkt nach der Annexion der Krim verlassen und lebe nun schon seit elf Jahren in Lettland. Ich konnte anfangs noch nach Russland reisen, aber keine Filme mehr dort machen. Inzwischen haben die russischen Behörden ein Strafverfahren gegen mich eingeleitet, ich gelte als »ausländischer Agent«, sodass ich nicht mehr dorthin reisen kann.

Unter welchen Bedignungen konnten Sie »Time to the Target« realisieren?

Bei dem Film gab es überhaupt keine Restriktion. Ich hatte noch nicht einmal Sorge wegen der Tatsache, dass er drei Stunden dauert. Ich bin mir bewusst, dass das kein willkommenes Format für Fernsehsender, Festivals und Kinos ist. Die Länge ist sehr herausfordernd. Aber ich wollte meine wahren Gefühle artikulieren und wusste, dass dies dafür die angemessene Länge und die richtige Art dies zu tun war. Deshalb bin ich besonders dankbar für die finanzielle Unterstützung durch das Nationale Filmzentrum von Lettland und den Tschechischen Filmfonds und dafür, dass der Film auf der Berlinale gezeigt und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wird.

»Chas pidlotu / Time to the Target«. Buch/Regie: Vitaly Mansky. (Regie, Buch). Lettland, Tschechien, Ukraine 2025, 179 Min., 17.2. Delphi, 18.45 Uhr, 20.2. Arsenal 1, 11 Uhr

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